Leserbrief
Enttäuschung betrauern
Zu: »Geschwisterlichkeit« (2/2025, Seite 40-41)
Welch wunderbares Gedicht von Hilde Domin! Und: Welch eine blinde Frage des Autors am Ende seines Artikels zu diesem Gedicht: »Ob wir 2025 das Ende der Brudermordtragödien erleben werden?« »Blind«, weil es seine völlig unrealistische Wahrnehmung unseres Menschwerdens und -seins offenbart: Neid auf den Bruder fällt nicht vom Himmel! Neid unter Geschwistern gibt es oft, vielleicht immer, denn wir sind als kleine Kinder angewiesen darauf, dass unsere Eltern uns unsere individuellen Gaben, Fähigkeiten und Unterschiede so früh wie möglich bewusst machen, sie pflegen und fördern, sodass Neid und Hass auf das Anderssein und Anderssein-Können der anderen, das sogenannte »Böse«, versiegen können. Neid und Hass entstehen vor allem, wenn wir als kleine Menschen nicht genug gesehen, anerkannt, gewürdigt und verstanden werden. Das sind unsere zentralen Bedürfnisse in dieser prägenden Lebensphase. Werden sie nicht erfüllt, entsteht Enttäuschungswut. Und diese kann sich in Heranwachsenden ausbreiten, wenn die frühkindlichen Defizite nicht als solche anerkannt, verstanden und betrauert werden. Die Dynamik zwischen Bedürfnissen, Enttäuschung und Wut zu erkennen und in Trauer statt in Hass zu verwandeln ist eine unserer wichtigsten Lebensaufgaben. Ruth Priese, Berlin