Heute noch Latein lernen?
Jörg Menno Harms: »Ja, das Lateinlernen fördert abstraktes Denken«
»Ich bin unbedingt dafür, dass Schülerinnen und Schüler heute Latein lernen. Obwohl Latein keine lebendige Umgangssprache mehr ist, erwerben sie damit wichtige Qualifikationen. Natürlich war mir dies im damaligen Lateinunterricht im Gymnasium noch nicht verständlich, aber das Knobeln im Übersetzen hat mir schon Freude bereitet. Ich habe dabei Fähigkeiten erworben, die ich später in meinem Berufsleben als Ingenieur und im Management sehr gut einsetzen konnte: das methodische, konzeptionelle und strategische Denken. Geholfen haben mir diese Fähigkeiten auch im Studium, zum Beispiel beim Studienfach Theorie der Elektrotechnik, das vor allem Abstraktionsvermögen verlangt. Und im Unternehmen ist unter anderem strategisches Denken gefragt, man muss methodisch vorgehen, Informationen verdichten, Dinge und Ereignisse einordnen.
Wer in der Schule jahrelang an syntaktischen und semantischen Feinheiten der lateinischen Sprache arbeitet, erwirbt zudem ein hohes Maß an sprachlicher Präzision. Daran mangelt es heute! Und es gibt zu viele Menschen, die kaum in der Lage sind, ein Problem zu erkennen, es sprachlich zu formulieren und den gedanklichen Prozess ihrer Problemanalyse zu kommunizieren. Der Lateinunterricht ist hierfür eine gute Schulung.
Was ist in Zukunft wichtig? Wir müssen auf Informationen zugreifen und diese verdichten können. Wir brauchen Menschen, die methodisch denken können. Nicht derjenige wird die Zukunft meistern, der das meiste Wissen hat, sondern derjenige, der mit dem Wissen umzugehen weiß. Natürlich sollen die Schüler auch Englisch, Informatik und gesunde Lebensführung in der Schule lernen, auch – aber nicht anstelle von Latein!«
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Elsbeth Stern: »Nein, Latein bietet keine Vorteile«
»Latein hat den Ruf, nicht nur den Erwerb anderer Fremdsprachen zu erleichtern, sondern auch die Entwicklung logischen Denkens und eines guten Gedächtnisses zu fördern. Das sind allerdings reine Mythen. Schüler, die länger Latein gelernt haben, haben keine Vorteile, weder in Mathematik noch in logischem Denken. Der ehemalige Lateinlehrer Ludwig Haag, jetziger Professor für Pädagogik in Bayreuth, und ich haben sehr viele Längsschnittstudien dazu durchgeführt, die das zeigen. Einen kleinen Vorsprung haben wir allerdings gefunden: Diese Schüler konnten in deutschen Texten eingebaute Fehler, insbesondere Kasus-Fehler, etwas leichter entdecken. Das rührt daher, dass sie gewisse Lernstrategien erworben haben. Sie schauen eher auf Wortendungen und darauf, wie die Worte in Beziehung zueinander stehen.
In einer weiteren Untersuchung haben wir Studenten miteinander verglichen, die in der Schule als zweite Fremdsprache entweder Latein oder Französisch gewählt hatten. In der Universität kam bei beiden Gruppen Spanisch dazu. Die Studenten, die Französisch gelernt hatten, fanden leichter zur spanischen Sprache als die Lateinschüler, denn die bauten Fehler ein, die typisch sind für Latein, beispielsweise Zeitfehler oder falsche Verwendung von Präpositionen.
Allgemeinbildende Schulen haben den Auftrag, Heranwachsende zu selbstständig denkenden Menschen zu erziehen, die in einer durch Wissenschaft und Technik geprägten Gesellschaft verantwortungsvoll handeln sollen. Es ist überfällig, die schulischen Lerninhalte auf diese Anforderungen abzustimmen – beispielsweise durch eine stärkere Gewichtung der naturwissenschaftlichen Fächer – und zwar zulasten von Latein.«
Elsbeth Stern, geboren 1957, ist Psychologin und Professorin für Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich. Im Gymnasium hat sie Latein gelernt.
Antonius Re 30.04.2015:
Latein – ein Elend, ein pädagogisches und sprachliches:
Aus eigener Erfahrung: Schulzeit am Altsprachlichen Gymnasium vor 1965; Lehrerdasein Gymnasium mit reformierter Oberstufe von 1970 bis 2100
In der früheren Klasse einer recht berühmten Penne waren Latein und Griechisch das Lustobjekt für Pfusch und Betrug; euphemistisch “ponsen“ genannt; sogar die Abiturarbeiten wussten zwei „Kameraden“ mit den je drei Abiturentwürfen für den Regierungspräsidenten zu klauen (aus dem Papierkeller des Büros). Sprachliche Konstruktionen und Begriffe habe ich erst für mein Dasein als Deutschlehrer gelernt. Das lateinische System mit zwölf Ablativi und sieben Genitivi war Unsinn. Hinzu kamen das beliebig zu variierende Partizipialkonstruktionen. Was richtig war, bestimmte de Lehrer aufgrund seiner kommentierten Ausgaben, nicht aufgrund des deutschen Sprachvermögens, das sehr eingeschränkt war. (Das von Duden.de angegebene „ponsen“ ist semantisch unzulänglich und verunklart.)
Jonas 25.04.2015:
Abstraktes Denken - ja! Aber warum muss es denn gerade Latein sein? Wieso nicht z.B. formale Logik?
Ich kann mich jedenfalls nur Frau Stern anschliessen.