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Dieser Artikel stammt aus
Publik-Forum, Heft 8/2022
Der Inhalt:
Leben & Kultur

Emmanuel Carrère
Vom Zusammenbrechen und Wiederaufstehen

Emmanuel Carrères aktuelles Buch »Yoga« ist durchaus eitel - aber auch sehr fesselnd
von Barbara Tambour vom 29.04.2022
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Meister der Selbstbeobachtung: Emmanuel Carrère, 1957 geboren, gilt als einer der wichtigsten Schriftsteller Frankreichs (Foto: PA/Keystone/Laurent Gillieron)
Meister der Selbstbeobachtung: Emmanuel Carrère, 1957 geboren, gilt als einer der wichtigsten Schriftsteller Frankreichs (Foto: PA/Keystone/Laurent Gillieron)

Autofiktion. Es sollte ein heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga werden. Der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère praktiziert Yoga und Tai Chi schon seit Jahren. Nun zieht er sich für zehn Tage in ein Yogazentrum auf dem Land zurück. Yoga, wie er es praktiziert, ist stilles Sitzen auf dem Kissen. Zehn Tage Schweigen erwarten ihn. Jede Meditationssitzung dauert zwei Stunden. Der Autor will Material sammeln für ein neues Buch – und hat deswegen ein schlechtes Gewissen: Meditation, so legt er dar, heißt, die eigenen Gedanken beobachten und ziehen lassen. Er aber will beobachten und aus Gedanken Sätze formulieren, sie festhalten, wenigstens im Gedächtnis. Notizblock, Laptop und Handy hat er zu Hause gelassen, immerhin.

Dieser Artikel stammt aus Publik-Forum 08/2022 vom 29.04.2022, Seite 55
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Carrère nimmt die Leserin mit in die Meditationshalle, wo er mit Dutzenden anderen bewegungslos auf seinem Kissen sitzt. Wo er den Atem beobachtet, wie er in seine Nasenlöcher einströmt und ausströmt. Wo er seine Wirbelsäule nach oben reckt und nach unten senkt. All das ist für sich eine Vollzeitbeschäftigung für den Geist, wie er erklärt. Aufs Genaueste hält er fest, was er erlebt und worüber er nachdenkt. Emmanuel Carrère ist ein Meister der Selbstbeobachtung. Er ist eitel. Muss er wohl sein, denn man muss sich selbst schon sehr interessant finden, um ein solches Buch zu schreiben. Dennoch: »Yoga« ist ein fesselndes Buch, auch wenn es etwa ab der Hälfte nur noch wenig mit Yoga zu tun hat.

Denn an Tag vier bricht die Realität in das abgeschiedene Yogazentrum ein: Carrère wird herausgerufen. Es ist Januar 2015, in Paris haben Dschihadisten die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo überfallen und elf Menschen getötet. Carrère soll die Trauerrede auf einen der Getöteten halten.

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Nicht nur der Terror wirft den Autor aus der Bahn. Man erfährt von einer Liebesbeziehung mit einer Frau, die er auf einem anderen Yogaseminar kennengelernt hat. Und findet sich auf der nächsten Seite mit Carrère in der psychiatrischen Klinik wieder, wo er mit Elektroschocks behandelt wird und die Diagnose »Bipolare Störung« erhält. So intensiv er über den Atemfluss durchs Nasenloch schreibt, so anschaulich berichtet er über die ersten Tage in der Klinik und über die Zeit davor. Depressionen hatte er immer wieder in seinem Leben.

Carrère gibt im Buch vor, immer ehrlich und aufrichtig gegenüber den Lesenden zu sein. Doch hier wird eine Leerstelle deutlich, an der Ich-Erzähler und Autor auseinanderfallen: die Trennung von Carrères zweiter Ehefrau, die die gute Phase beendet und ihn in Depressionen stürzt. Im Zuge der Scheidung hat er sich verpflichtet, nicht über sie zu schreiben. Das Buch ist ohnehin keine Reportage, sondern ein autofiktionaler Roman, in dem sich autobiografische Elemente mit fiktionalen Handlungselementen verweben. In diesem populären Genre schreiben etwa auch der norwegische Autor Karl Ove Knausgård oder die französische Autorin Annie Ernaux.

Nach Attentat, Trennung und psychischem Zusammenbruch ist das Projekt, ein heiteres, feinsinniges Buch über Yoga zu schreiben, gescheitert. Emmanuel Carrère schreibt dennoch weiter. Schreibend bewältigt er sein Leben. Schreibend richtet er sich wieder auf.

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