Egoisten wider Willen
Das gesellschaftliche Engagement junger Menschen in Deutschland ist zwischen 1999 und 2009 leicht gesunken. Die grundsätzliche Bereitschaft Jugendlicher, sich zu engagieren, hat hingegen zugenommen und beträgt derzeit 49 Prozent. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie der Bertelsmann Stiftung, für die knapp 3000 Jugendliche zwischen 14 und 24 Jahren befragt wurden. So nimmt sich beispielsweise nur noch jeder fünfte Jugendliche bis 19 Jahren mehr als sechs Stunden Zeit in der Woche für sein Engagement. Vor zehn Jahren war es noch knapp die Hälfte.
1000 Milliarden für den Tod
Keine Zeit für die Gemeinschaft
Eigentlich möchten sich viele junge Menschen freiwillig engagieren: ehrenamtlich eine Jugendmannschaft trainieren, sich für eine Hochschulgruppe, Partei oder einen Naturschutzverband einsetzen, Verantwortung bei einer kirchlichen Gruppe oder der Schülerzeitung übernehmen. 49 Prozent der 14- bis 24-Jährigen können sich laut einer neuen Studie der Bertelsmann Stiftung vorstellen, mit derlei Aktivitäten ihre Freizeit zu füllen. De facto tun dies allerdings nur 35 Prozent. Während der Wunsch, sich zu engagieren, seit 1999 gewachsen ist, ist die Anzahl der Jugendlichen, die sich tatsächlich einbringen, gesunken. Warum?
Die naheliegende Antwort: Die Ursache für diese Kluft liegt bei den Jugendlichen selbst. Das aufrichtig bekundete Interesse an sozialem Engagement weicht im Alltag schnell einem bunten Strauß anderweitiger Möglichkeiten, seine Zeit zu vertreiben. So nimmt beispielsweise das Internet im Leben junger Menschen einen immer höheren Stellenwert ein. Die Shell Jugendstudie zeigt: 2010 verbrachten Jugendliche zwischen 12 und 25 Jahren wöchentlich bereits 12,9 Stunden im Netz.
Doch die Schuld für das gesunkene Engagement junger Menschen nur bei alternativen Freizeitangeboten und Online-Netzwerken wie Facebook zu suchen greift zu kurz: Auch unsere Gesellschaft trägt einen großen Teil dazu bei. Ganztagsunterricht bis in die späten Nachmittagsstunden und verkürzte Schulzeiten durch ein achtjähriges Turbo-Abitur rauben vielen Jugendlichen schlicht die nötige Zeit. Während sich von den Gymnasiasten, die in neun Jahren ihr Abitur machen, mehr als die Hälfte engagiert, sind es bei den G8-Schülern nur noch 41 Prozent. Leistungsdruck und Zeitmangel sorgen für gestresste Teenager. Viele sind überfordert.
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Immer schneller zum Ziel
Was an den Schulen beginnt, setzt sich an den Universitäten fort: Die Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge hat die Studienzeit komprimiert. Straffe Stundenpläne und eng getaktete Leistungskontrollen schaffen eine Generation unfreiwilliger Egoisten, die neben Studium und Job nur noch selten Energie für anderes aufbringen. Weithin gilt das Motto: »Schneller zum Ziel«; durch das Wegfallen des Wehr- und Zivildienstes hat sich jüngst auch die Vorerwerbsphase für junge Männer verkürzt.
Steigende Anforderungen der Arbeitswelt bescheren der Jugend zusätzlichen Druck: Indem jeder am möglichst perfekten Lebenslauf bastelt und sich krampfhaft bemüht, alle Lücken zu eliminieren, wächst der Konkurrenzkampf. Zu dem zwanghaften Bestreben junger Menschen, überall möglichst gut abzuschneiden, passt ein weiteres Ergebnis der Studie: Die Motive der Jugendlichen, sich ehrenamtlich zu engagieren, zielen heute mehr denn je auf den beruflichen Nutzen ab – Geselligkeit und Spaß nehmen als Beweggründe hingegen ab. Stattdessen zeichnet sich die junge Generation durch Leistungsorientierung, ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit und wachsende Mobilitätsbereitschaft aus. Dass das unstete Leben moderner Großstadtnomaden jedoch auch die soziale Einbindung am Wohnort und damit freiwilliges Engagement hemmt, steht außer Frage.
Eine Gesellschaft, die junge Menschen zu Leistungsindividualisten macht, beraubt sich somit ihrer eigenen Grundlage: Solidarität und Verantwortungsübernahme bleiben auf der Strecke. Deshalb ist es dringend notwendig, dass Schulen und Universitäten für Jugendliche Frei- und Spielräume schaffen, um sich zu engagieren. Auch Parteien, Organisationen und Vereine müssen ihnen die Türen öffnen. Denn wer sich einbringt, kann Kompetenzen erwerben, Selbstvertrauen entwickeln und hat die Chance, unsere Gesellschaft mitzugestalten. Am allermeisten bedarf es aber einer Anstrengung der jungen Menschen selbst: Sie müssen den Mut aufbringen, sich aus dem Selbstoptimierungswahn auszuklinken. Wer sich Zeit nimmt und etwas auf die Beine stellt, ist nicht nur bereit zum Engagement. Sondern tut es.