Leserbrief
Geteilte Bräuche
Zu: »Geschichten seltener Treue« (7/2024, Seite 50-52)
Leider wird heute der Kontakt zwischen Juden und Deutschen fast ausschließlich auf die NS-Zeit und den Holocaust bezogen und also negativ gesehen. Und hätte nicht Professor Friedrich Georg Friedmann ein halbes Jahrhundert nach dieser Zeit seine Dienstmädchen-Geschichten gesammelt, wären auch diese heute vergessen. Vielen Dank, dass Publik-Forum sie in Erinnerung ruft. Wie diese »außergewöhnliche christlich-jüdische Beziehung« zustande kam, ist zwar »nicht wissenschaftlich erforscht«, aber man kann vermuten: Humanismus und Aufklärung brachten zwischen 1812 (Preußen) und 1871 (Deutsches Reich) die Gleichberechtigung der Juden. Diese trugen dann nicht unwesentlich zur Industrialisierung bei, kamen zu Achtung und Wohlstand und konnten sich ein Dienstmädchen leisten. Aber warum ein christliches? Nun, am Schabbat konnte man von keinem Juden und keiner Jüdin verlangen, auch nur eine Kerze anzuzünden. Ein christliches Mädchen war von dem religiösen Arbeitsverbot nicht betroffen, es konnte auch am Schabbat kochen und im Winter den Ofen heizen. Umgekehrt brachten diese Dienstmädchen jüdische Kultur in den deutschen Haushalt: den Frühjahrsputz vom Passahfest, das sonntägliche Zopfbrot vom Schabbat oder die Gartenlaube vom Laubhüttenfest, ja sogar den Fasnetbrauch, dass maskierte Kinder in kleinen Gruppen von Haus zu Haus gingen, Sprüche aufsagten und Gaben einsammelten, wie er in meiner Kindheit noch bestand und der wohl vom Purimfest stammt. Karl-Heinz Haid, Isny