Norbert Coprays gesammelte Werke (21)
Nachhaltigkeit ist in Misskredit geraten. »Heute ist der Begriff so abgenutzt und missbraucht, dass er zu einer Floskel verkommen ist, ohne dass deren Inhalt geklärt oder kritisch bestimmt ist«, schreibt Leonardo Boff in seinem neuen Buch »Überlebenswichtig«. Der inzwischen emeritierte Professor für Ethik und Religion in Rio de Janeiro, weltweit bekannt als einer der führenden Köpfe der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, begründet darin, »warum wir einen Kurswechsel zu echter Nachhaltigkeit brauchen«.
Der Begriff Nachhaltigkeit, so seine Analyse, muss der Public-Relations-Maschine der Unternehmens- und Politbosse wieder entrissen werden. Denn sie haben aus der Nachhaltigkeit eine »bloße Rhetorik« gemacht, um die Illusion aufrechtzuerhalten, »dass die natürlichen Ressourcen unendlich wären« und wir »endlos in die Zukunft voranschreiten könnten«. Eine so zurechtgebogene Nachhaltigkeit dient also nur dem unbändigen Profit. Sie steht für einen »Neokapitalismus«, der durch antizyklisches Vorgehen die Kritik am vorherrschenden Kapitalismus beschwichtigt, in Wahrheit jedoch »lediglich die Fortschreibung des Wachstumswahns mit anderen Mitteln« ist.
Achtsamkeit als Wesensmerkmal der Nachhaltigkeit
Im Unterschied dazu spricht Boff von »echter Nachhaltigkeit«. Er sieht in der Frage, wie wir mit Nachhaltigkeit umgehen, was wir aus ihr machen und wie sie uns leitet, die Kernfrage unseres Jahrhunderts. Statt einer »Scheinökologie« zu dienen, muss sie zu einer radikalen Umkehr führen.
Publik-Forum EDITION
»Das Ende des billigen Wohlstands«
Wege zu einer Wirtschaft, die nicht zerstört.»Hinter diesem Buch steckt mein Traum von einer Wirtschaft, die ohne Zerstörung auskommt. / mehr
Boff findet die »derzeitige sozioökologische Ordnung nicht nachhaltig«, weil sie zu sehr auf den Menschen fixiert ist, die Erde als dessen Ressourcenspeicher ansieht, grenzenlosem Fortschritt frönt, Individualismus, Achtlosigkeit und Vorrang des Kapitals propagiert. Dem stellt er einen »umfassenden Begriff von Nachhaltigkeit« entgegen, ein kosmologisches Paradigma der Veränderung, das die »Erde als lebendigen Großorganismus« anerkennt, als Mutter allen Lebens.
Dieses kosmologische Paradigma schließt – im Unterschied zu anderen Denkmodellen – auch die psychologischen und spirituellen Dimensionen mit ein. Insofern schließt Boff an die Enzyklika »Laudato Si« von Papst Franziskus an und versteht sein Buch als eine Art großen, ins Praktische gewendeten Kommentar dazu. Die Befreiungstheologie mündet so in eine umfassende Befreiungsphilosophie und -praxis, die die »Achtsamkeit als Wesensmerkmal der Nachhaltigkeit« auffasst.
Boff kämmt alle alternativen Ansätze für eine Nachhaltigkeitsorientierung von der »grünen Ökonomie« über Bioökonomie bis zur solidarischen Ökonomie durch, um deren Defizite zu überwinden. Das reicht bis zur sozialökologischen Demokratie und zur ökozentrischen Erziehung. Leonardo Boff hat ein beeindruckendes, gut verständliches Buch für ein radikales Umdenken geschrieben, das auf der Höhe der internationalen und deutschsprachigen Diskussion die Reflexion und Praxis der Nachhaltigkeit vorantreiben kann, ja, vorantreiben muss.