Literatur
Die traurige Reise in eine Kindheit der 1960er-Jahre
Autobiografie. Das Cover zeigt zwei junge Frauen, die gemeinsam in einen Badezimmerspiegel blicken. Auf dem Foto sind sie Anfang 20, sie tragen die gleiche Frisur und sehen sich auffallend ähnlich. Die linke ist die Autorin des Buches, Bettina Flitner. Die rechte ist ihre Schwester, die sich 2017 das Leben genommen hat.
In ihrem autobiografischen Buch »Meine Schwester« verarbeitet die Fotografin Bettina Flitner ihre Verzweiflung über den Suizid des Menschen, der in ihrer Kindheit ihre wichtigste Bezugsperson gewesen ist – und spürt die Ursachen in ihrer Familiengeschichte auf. Dadurch wird dieser Text auch zu einer Milieustudie des linksliberalen Bildungsbürgertums in den 1960er- und 1970er-Jahren, in dem die Schwestern aufgewachsen sind. Obwohl sie in einer intellektuellen wohlsituierten Familie leben, in der man ständig Partys feiert und nach Italien reist, ist die subtile Fragilität dieser freizügigen Wirtschaftswunderjahre für die Mädchen deutlich spürbar. In den zahlreichen Ortswechseln, Liebesaffären, Ehekrisen und depressiven Zusammenbrüchen der Erwachsenen geraten die Kinder zuweilen ganz aus dem Blick, können die Schwestern sich nur aneinander festhalten. Während Bettina sich früh und bewusst für ein selbstbestimmtes Leben entscheidet, werden die psychischen Schäden ihrer jüngeren Schwester bereits in der Pubertät als Vorboten der Katastrophe erkennbar.
Der Ton dieser bewegenden Autobiografie ist klar und klug, ironisch und unterhaltsam. Und als sanfte Nebenfigur, die vieles auffängt und für alle Betroffenen da ist, tritt hier immer wieder Alice in Erscheinung – die Feministin Alice Schwarzer, mit der die Autorin verheiratet ist.
Kiepenheuer & Witsch. 320 Seiten. 22 €