Norbert Coprays gesammelte Werke (23)
Er fehlt. Der Mahner, der Aktivist, der Humanist, der Analytiker, der Christ. Doch kurz vor seinem Tod am 31. Mai hat uns Rupert Neudeck ein journalistisch-politisches Vermächtnis hinterlassen: »In uns allen steckt ein Flüchtling«. So lautet der Titel seines letzten Buches. Die Situation der heutigen Flüchtlinge sei so extrem, dass sie für uns kaum vorstellbar sei.
Der Journalist und langjährige Redakteur des Deutschlandfunks beginnt biografisch. Er erzählt, wie er mit seiner Frau Christel und mit Heinrich Böll die Hilfsorganisation Komitee Cap Anamur/Deutsche Notärzte für die vietnamesischen Boat People und später gemeinsam mit seiner Frau und Aiman Mazyek das internationale Friedenskorps Grünhelme gründete. Dann geht er etwas weiter zurück in der Geschichte und schildert die Verfolgung durch die Rote Armee. Neudecks flohen Ende Januar 1945 aus Danzig. Da die Familie die Abfahrt des Fluchtschiffs Wilhelm Gustloff verfehlte, sind sie knapp dem Tod entronnen. Denn das Schiff wurde von einem sowjetischen U-Boot vor der Küste Pommerns am 30. Januar 1945 versenkt. Mehr als 9000 flüchtende Menschen starben.
Neudeck erwähnt, wie viele Menschen Deutschland über die Jahrhunderte hinweg aus Not, Arbeitslosigkeit, Hunger oder Verfolgung verlassen haben. Mehr als zwölf Millionen Deutsche sind allein am Ende des Zweiten Weltkriegs nach Westen geflohen. Da macht es für Neudeck wenig Sinn, zwischen »Wirtschaftsflüchtlingen und Nicht-Wirtschaftsflüchtlingen« zu unterscheiden, zumal unsere Art, global zu wirtschaften, eine Fluchtursache ist. Neudecks Botschaft: Wir sollten auf das schauen, was Deutschland schon geschafft hat, um ehemals Fremde aufzunehmen und ihnen zur Heimat zu werden.
Publik-Forum EDITION
»Das Ende des billigen Wohlstands«
Wege zu einer Wirtschaft, die nicht zerstört.»Hinter diesem Buch steckt mein Traum von einer Wirtschaft, die ohne Zerstörung auskommt. / mehr
Dass die Integration einer sehr großen Menge von Flüchtlingen nicht einfach ist, dass es Behördenwirrwarr, rechte Hetzer und Aggressionen gibt, dass sogar Politiker, die sich für Flüchtlinge einsetzen, bedroht werden, weiß auch Neudeck. Doch deswegen dürften wir nicht zurückweichen. Wir sollten uns vielmehr als Partner der Flüchtlinge begreifen. Das Lebenszeugnis von Neudeck spricht für sich. Seit der Gründung der Cap Anamur steckte er immer wieder selbst mittendrin in den Flüchtlingstrecks dieser Welt. Aus eigenem Erleben und Handeln, immer mit Bezug zur Gegenwart, im Blick auf unsere Gesellschaft und unsere Verantwortung, erzählt er spannend und informativ. Über das Schicksal der Kurden, der Palästinenser, der Afghanen, der Eritreer, der Syrer: »Fast alle sind Flüchtlinge.« Neunzig Prozent der 65 Millionen Flüchtlinge weltweit bleiben heimatnah in elenden Flüchtlingscamps. Nach Europa gelangt nur ein kleiner Teil. Ist das schon eine Überforderung?
Neudeck argumentiert nicht naiv. Er sieht die »gelingende Integration« als eine partnerschaftliche Aufgabe zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen an. Seine Perspektiven und Handlungsimpulse und sein Vorbild werden bleiben. Sie sind eine dauerhafte Inspiration für ein Europa der humanen Werte.