Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser,
zur Vorbereitung auf die Erstkommunion gehörte bei meinen Kindern die obligatorische Beichte. Müssen Neunjährige beichten? Obwohl mir nicht ganz wohl dabei war, gestaltete ich als Katechetin diesen Nachmittag mit. Als ich das Interview mit Doris Reisinger in dieser Ausgabe las, erinnerte ich mich daran. Für Reisinger ist die Beichte fast so etwas wie eine Initiation in den geistlichen Missbrauch. Sie hält die Pflicht zur Beichte für falsch. Ein erhellendes Interview über ein systemisches Problem der katholischen Kirche (Seite 28).
Den Kirchen fällt es schwer, durch Gewalt traumatisierte Menschen in ihrer eigenen Mitte wahrzunehmen. Christoph Fleischmann zeigt in »Der Riss ist tief«, wie geistlicher und sexueller Missbrauch nicht nur den Glauben der Betroffenen infrage stellt, sondern auch den Glauben der Gemeinschaft. Und wie die Kirchen die Betroffenen einmal mehr alleine lassen (Seite 26).
Allein gelassen – und von der Polizei nicht ernst genommen – wurde die österreichische Ärztin Lisa-Maria Kellermayr. Impfgegner haben sie digital auf Twitter und in ihrer Arztpraxis monatelang bedroht. Ende Juli hat sie Suizid begangen. In der Redaktion sind wir bestürzt darüber. Es ist erschreckend, dass aus unterschiedlichen Ansichten zu Corona und zum Impfen eine Hetzjagd wird, die an der Praxistür nicht haltmacht. Das bedroht nicht nur einzelne, sondern auch unsere Demokratie. Alexander Schwabe analysiert in dieser Ausgabe, welche Probleme die Demokratie hat (Seite 12). Der Soziologe Matthias Quent erklärt, wie sich die Szene der Corona-Leugner mit den Leugnern der Klimakrise vermischt (Seite 20) und wie sie sich radikalisieren. Die französische Philosophin Corine Pelluchon verteidigt die Aufklärung und ihr politisches Projekt, die Demokratie. Sie macht deutlich, dass deren Befürworter zusammenhalten und bereit zum Kompromiss sein müssen, um die Demokratie gegen deren Feinde zu verteidigen (Seite 50).
Viel Stoff. Aber Sie haben Zeit für die Lektüre. Unsere nächste Ausgabe erscheint diesmal erst in drei Wochen.
Foto: Teresa Tambour