Pro und Contra
Gibt es zu viele Akademiker in Deutschland?
Gudrun Nolte:
Ja, die Ausbildung wird nicht geschätzt!
Die international gerühmte duale Berufsausbildung in Betrieb und Berufsschule steckt in der Krise: 2020 haben erstmals mehr junge Menschen ein Studium begonnen als eine Berufsausbildung. Dabei werden in Industrie, Pflege und Handwerk Fachkräfte dringend gesucht. Ohne Handwerkerinnen und Techniker für Wärmedämmung, Solaranlagen, Wärmepumpen scheitert die Energiewende.
Dahinter steht ein Imageproblem. Wir hören von jungen Menschen oder ihren Eltern: »Wenn man es zu etwas bringen will, muss es ein Studium sein.« Das stimmt so längst nicht mehr. Es steigen die Gehälter, es gibt flexiblere Arbeitszeiten, Qualifikation und Aufstieg. Doch es bleibt die gesellschaftliche Abwertung.
Ich bin gelernte Fachkrankenschwester; jetzt, nach einem Studium, leite ich den evangelischen kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt. Ohne die Berufsausbildung wäre ich heute nicht da, wo ich bin. Die Einteilung in »einfache« und »bessere« Berufe hat schon Martin Luther kritisiert, der 1532 predigte: »Wenn du eine geringe Hausmagd fragst, warum sie das Haus kehre, die Schüsseln wasche, die Kühe melke, so kann sie sagen: Ich weiß, dass meine Arbeit Gott gefällt.« Das sollten wir von Luther lernen: Wir müssen die Berufe in Pflege, Erziehung oder Handwerk genauso schätzen wie einen akademischen Beruf. Dazu gehört auch ein lebenswertes Auskommen – Menschen in Ausbildungsberufen dürfen sich nicht wie Märtyrer für einen höheren gesellschaftlichen Zweck fühlen. Nur rund ein Drittel der Beschäftigten im Handwerk arbeiten in tariflichen Strukturen. Tarifverträge aber machen Ausbildungsberufe attraktiv.
Eine Ausbildung sollte ebenso der Türöffner für eine glänzende Karriere sein wie ein Studium.
Christoph Mandry
Publik-Forum EDITION
»Das Ende des billigen Wohlstands«
Wege zu einer Wirtschaft, die nicht zerstört.»Hinter diesem Buch steckt mein Traum von einer Wirtschaft, die ohne Zerstörung auskommt. / mehr
Nein, das Problem ist die Demografie!
Es gibt in Deutschland nicht zu viele Akademikerinnen und Akademiker. Im internationalen Vergleich liegt vielmehr der Anteil der Menschen mit Hochschulabschluss mit gut einem Drittel im unteren Mittelfeld. Es gibt keine nennenswerte Akademikerarbeitslosigkeit, auch Philosophinnen oder Germanisten, Theologinnen und Altertumswissenschaftler finden in der Regel eine Stelle. Die Akademisierung der Pflege- und Erziehungsberufe wiederum zeigt den gestiegenen Stellenwert dieser Arbeit, was eine gute Entwicklung ist. Nicht jeder Mensch muss studieren – doch der Bildungsaufstieg ist eines der großen demokratischen und sozialen Versprechen der Bundesrepublik.
Es gibt zu wenige Handwerkerinnen und Facharbeiter, das ist offensichtlich. Das liegt aber vor allem daran, dass es insgesamt zu wenig junge Menschen in Deutschland gibt; uns macht der demografische Wandel zu schaffen, nicht die Überakademisierung. Immer noch arbeiten zu wenige Frauen Vollzeit. Und immer noch benachteiligt das Schulsystem Kinder bildungsferner Familien, die dann eine Ausbildung nicht durchhalten. Ausbildungsberufe sind heute oft so anspruchsvoll wie akademisch geprägte Berufe; ein Schreiner, Monteur, Installateur braucht selbstverständlich IT-Wissen. Bezahlung und Work-Life-Balance aber sind im Handwerk meist schlechter als im Akademikerbereich.
Hier muss sich etwas ändern. Die Lösung ist nicht, junge Menschen von der Uni fernzuhalten. Wohl aber, akademische und praktische Ausbildung besser zu verzahnen, durch duale Studiengänge zum Beispiel. Lernen wird ohnehin zunehmend zu einem lebenslangen Prozess der Qualifikation und Weiterbildung. Egal, ob nach einem Studium oder einer Ausbildung.
Christoph Mandry ist Professor für Moraltheologie und Sozialethik am Fachbereich Katholische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt.
Wolfgang Elsasser 10.08.2022, 22:20 Uhr:
Aus meiner beruflichen Tätigkeit als Berufsschullehrer habe ich den Eindruck bekommen, dass junge Menschen immer seltener an praktische Tätigkeiten heran geführt werden. In der allgemeinbildenden Schule fehlt z.B. der Werkunterricht oder z.B. die Erfahrung mit einem Schulgarten. Stattdessen propagieren viele Politiker die Digitalisierung. Aber wenn dann Lehrer aus welchen Gründen auch immer statt des Schülerexperiments einen Film auf dem Tablett benutzen um z.B. die Zentrifugalkraft darzustellen, dann brauchen wir uns über die Entfremdung von der Realität nicht zu wundern. Dann kann auch ein Studium diese Entfernung nicht wieder verringern. Nicht selten werden Studien auch abgebrochen und was kommt dann? Eine "Zeitenwende" wäre: Wir sollten Schulen/Bildung verbessern und wesentlich mehr wertschätzen.
Eugen Kayser 06.08.2022, 14:10 Uhr:
Die Frage lässt sich- auch für einen Akademiker wie mich- nicht eindeutig beantworten, weil m.E. nicht eindeutig definiert ist, wer "Akademiker*in" ist: nur jemand mit Universitäts-Abschluss oder auch jemand mit Hochschul-Abschluss? Die am besten in ihrem Fachgebiet Kunst, Sport und Musik Ausgebildeten und Qualifizierten kommen in Deutschland noch immer von entsprechenden "Hochschulen", bis 19..(?) auch die Ingenieure, nämlich von Technischen Hochschulen. Was hat sich seit wann bzgl. der Akademikerausbildung in Deutschland geändert? Mir scheint das duale Studium die beste Berufsqualifikation zu sein. Denn in meinen Augen ist ein Akademiker ohne eine praktische Ausbildung auf irgendeinem Gebiet auch nicht "qualifiziert", was man an dem Heer von BWL-Akademikern in der Wirtschaft und Verwaltung, Politologen und ähnlichen Nur-Akademikern in gesellschaftlichen Führungspositionen, zB als Abgeordnete im Bundestag, sieht. Unter diesem Aspekt gibt es zu viele Theoretiker und zu wenige Praktiker
Georg Lechner 03.08.2022, 18:35 Uhr:
Das Problem ist vorrangig, dass personalintensive Sparten (Gesundheit, Bildung, Pflege) wegen der Fixierung auf die Maastricht- Kriterien von den Trottoirblättern schlechtgemacht wurden. Lehrer_innen sind ja auch Akademiker_innen, aber auch hier gibt es einen Mangel (zumindest aktuell in Österreich). Pflege ist wegen schlechter Bezahlung, Auslagerung an ausbeuterische Privatfirmen und Burn-out- Risiko in Verruf gekommen.
Bei den Handwerksberufen liegen die Ursachen je nach Branche unterschiedlich; im Gastgewerbe wirken schlechte Bezahlung und familienfeindliche Arbeitszeiten abschreckend.