Literatur-Tipp
Die Jugendsünde der Ethik-Professorin
Roman. Auf ihrer morgendlichen Joggingrunde wird Ruth Lember von einem Hund gebissen. Das bringt das Leben der 54-Jährigen aus dem Takt. Gerade sah es noch so geordnet und vielversprechend aus: Die Berliner Ethik-Professorin soll in Kürze Mitglied des Deutschen Ethikrates werden, eine Krönung ihrer Karriere. Ulrich Woelks Roman »Mittsommertage« erzählt eine einzige Woche im Sommer 2022. Innerhalb kürzester Zeit schmelzen in der Hitze Ruths Gewissheiten dahin. Schwach fühlt sie sich plötzlich. Unsicher. Und von ihrem Mann betrogen.
Was soll mit dem Bekennerschreiben von damals werden?
Am Tag des Bisses taucht Stav auf, ein Freund aus Studienzeiten. Gemeinsam haben sie damals gegen Umweltzerstörung und Atomkraft protestiert. Dass sie für eine spektakuläre Sabotageaktion verantwortlich waren, wissen bis heute nur sie beide. Eine Jugendsünde? Sachbeschädigung? Terrorismus? Stav will von Ruth wissen: Was soll mit dem Bekennerschreiben werden, das sie damals geschrieben und das er aufbewahrt hat? Kann Ruth diese Aktion weiter verschweigen? Muss sie das alles öffentlich machen, bevor sie Mitglied des Ethikrates wird? Die glatte Fassade bekommt Risse. Auf die Frage, wer sie ist – und wer sie in Zukunft sein wird –, muss Ruth neue Antworten suchen. Das macht die zunächst so abgeklärte, wohlsituierte Ethik-Professorin nahbarer.
Parallele zu Aiwanger
Das Thema »Jugendsünde« macht den Roman – unfreiwillig – zu einem höchst aktuellen Buch: Zwar ist die Aktion der Protagonistin ganz anders geartet als das Pamphlet in Hubert Aiwangers Schulranzen. Doch gerade die Tatsache, dass die Leserin für die politische Haltung Ruths Sympathie aufbringt – wenn auch nicht für die Aktion –, macht es zu einer spannenden Lektüre.
Ulrich Woelk. Mittsommertage.
C.H. Beck. 284 Seiten. 25 €.