Zwischen Schwarz und Weiß gibt es viele Farbtöne
Roman. Ein Mann steht auf einem Gullideckel am Eisenmarkt im mittelhessischen Wetzlar und hält ein Metallkästchen vors Gesicht. Die Menschen, die vorübergehen, wissen nicht, dass sie gerade fotografiert werden, denn bislang gibt es keine tragbaren Kameras – nur monströse Apparate auf Stelzen, vor denen man minutenlang stillhalten muss. Mit diesem Foto, das der Feinmechaniker Oskar Barnack im Frühjahr 1914 versuchsweise auf Kleinfilm aufnimmt, beginnt die Geschichte der mobilen Fotografie – und damit all der Schnappschüsse, Selfies und Paparazzi. Es ist auch der Einstieg zu Sandra Lüpkes neuem Roman »Das Licht im Rücken«. In einer charmanten Mischung aus akribisch recherchierter Technologiegeschichte und atemberaubender Familiensaga beschreibt die Autorin die Entwicklung der ersten Kleinfilmkamera, die später als Leica von Fotografen auf der ganzen Welt genutzt wurde. Doch die Industriellenfamilie Leitz, die das Kamera-Unternehmen startet, wird in unruhigen Zeiten vielfach erschüttert. Die Gattin des Inhabers nimmt sich das Leben, seine älteste Tochter verlobt sich mit einem kriminellen, pädophilen Schulleiter, das jüngste Kind bleibt nach einer Krankheit lebenslang behindert. Im aufkommenden Nationalsozialismus werden in den Leitz-Werken bald keine Kameras, sondern Militärgeräte produziert und Zwangsarbeiter eingesetzt. Um nicht enteignet zu werden, tritt Ernst Leitz in die NSDAP ein, unterstützt aber seine jüdischen Angestellten bei der heimlichen Flucht ins Ausland. Tochter Elsie wird dabei ertappt und von der Gestapo verhaftet. Das alles liest sich umso eindrücklicher, als es der von Sandra Lüpke recherchierten Wahrheit entspricht und mit Fotos untermauert wird. Im Nachwort legt sie dar, welche Figuren und Fakten historisch sind und was dichterische Freiheit ist. Ein historischer Roman im besten Sinne – und ein echter Lesegenuss, nicht nur für leidenschaftliche Fotografen.
Sandra Lüpkes. Das Licht im Rücken. Kindler.
496 Seiten. 23 €