Literatur
Die kulturelle Zerstörung Norddeutschlands
Roman. Es könnte Borkum sein oder Amrum, Föhr oder Norderney. Dörte Hansen hat die Insel bewusst nicht benannt, weil der scharfe Wind, der ihren Roman durchweht, auf allen derselbe ist. Und weil das, was hier geschieht, gerade überall auf den Nordseeinseln passiert. Im Mittelpunkt steht die Kapitänsfamilie Sander, die in einem 300 Jahre alten Haus lebt, mit Delfter Fliesen und einem Zaun aus Knochen eines Grönlandwals. Die Touristen, die die Insel im Sommer überströmen, bleiben davor stehen und nehmen es als idyllische Erinnerung von der See mit nach Hause. Doch die Geschichte der Familie macht deutlich, dass die Seefahrer, die sie hervorgebracht hat, vor allem das Frieren gelernt haben und die lebenslange Furcht vor dem nassen Tod. Der Vater kann nach Jahren auf See keine Nähe mehr ertragen und lebt als Vogelschützer auf einer unbewohnten Nachbarinsel. Der Sohn hat nach einem Sturmtrauma sein Kapitänspatent verloren und ist in den Alkoholismus abgestürzt. Sein jüngerer Bruder sammelt Strandgut und baut daraus skurrile Skulpturen, die Touristen in ihre Gärten stellen. Die Tochter arbeitet als Pflegerin im Seniorenheim für Seeleute und flieht vor den Touristenströmen, die die Inseltraditionen zur Folklore verkommen lassen. Ähnlich wie in ihren Romanen »Altes Land« und »Mittagsstunde« gelingen Dörte Hansen eindrucksvolle Porträts von Menschen, die zutiefst von ihrer norddeutschen Umgebung geprägt sind und zugleich deren kulturelle Zerstörung durchleben. Hansens Ton ist herber als in früheren Romanen – so karg und prägnant, dass man auf jeder Seite die raue Seeluft atmet.
256 Seiten. 24 €