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Dieser Artikel stammt aus
Publik-Forum, Heft 22/2015
Der Inhalt:

Eine soziale Dienstpflicht für alle?

Alte pflegen, Kinder betreuen, Flüchtlingen Deutsch beibringen: Es gibt mehr als genug zu tun. Deshalb wird immer wieder ein verpflichtender Sozialdienst gefordert. Finden Sie das gut? Stimmen Sie ab! Argumente? Finden Sie im folgenden Pro und Contra von Wolfgang Kessler und Andrea Teupke
von Wolfgang Kessler, Andrea Teupke vom 22.11.2015
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Sollte es eine soziale Dienstpflicht für alle geben? Wolfgang Kessler (links) sagt: »Ja!« Andrea Teupke (rechts) sagt: »Nein!« (Fotos: Publik-Forum)
Sollte es eine soziale Dienstpflicht für alle geben? Wolfgang Kessler (links) sagt: »Ja!« Andrea Teupke (rechts) sagt: »Nein!« (Fotos: Publik-Forum)

Wolfgang Kessler: »Ja, diese Dienstpflicht würde die Solidarität stärken«

»Klar, ein Zwangsdienst steht im Widerspruch zum Grundgesetz und zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Dennoch ist die Idee wichtiger denn je. Aus zwei Gründen: Zum einen fehlt es gerade in der Kinderbetreuung, in der Jugendarbeit, in der Pflege, im Gesundheitswesen, in Seniorenstiften und in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen an Arbeitskräften. In Zukunft wird es dort noch mehr Arbeit geben, während die Zahl der Auszubildenden abnehmen wird. Warum setzen wir also nicht – ergänzend – auf das soziale Engagement von jungen Leuten?

Dieser Artikel stammt aus Publik-Forum 22/2015 vom 20.11.2015, Seite 8

Das wiederum könnte den sozialen Zusammenhalt stärken. Denn gelebtes soziales Engagement für Menschen vermittelt Erfahrungen, die Schulen, Universitäten, aber auch Betriebe nicht vermitteln können. Zwar sind viele Jugendliche sozial engagiert. Doch ebenso viele wirken hinter ihren Smartphones isoliert, eher einsam, zuweilen orientierungslos. Andere, die von Helikopter-Eltern zu sehr gefördert werden, so ehrgeizig, dass sie Augen nur für sich und nicht für die Mitmenschen haben. Ein reiner Appell an den freien Willen klingt immer gut, vertieft in Wirklichkeit aber eher die Spaltung unter den jungen Menschen, weil sich zum Freiwilligendienst nur jene melden, die ohnehin schon sozial orientiert sind. Ein Pflichtdienst könnte jedoch gerade jenen die Augen für andere Welten öffnen, die sich freiwillig dort nie engagieren würden.

Ich weiß, wovon ich spreche. In den 1970er-Jahren habe ich den Wehrdienst verweigert und stattdessen 18 Monate lang Zivildienst mit benachteiligten Jugendlichen geleistet. Es war manchmal hart, doch jeder Tag hat mir den Horizont weiter geöffnet als die meisten Tage in der Schule. Freiwillig hätte ich diesen Dienst nie geleistet.«

Andrea Teupke: »Nein, Mitgefühl lässt sich nicht erzwingen«

»Es gab schon mal einen Pflichtdienst. Er hieß Zivildienst, und man muss ihm keine Träne nachweinen. Natürlich: Manche haben ihn gerne absolviert oder sagen zumindest, die zwölf oder achtzehn oder vierundzwanzig Monate seien eine sinnvolle Erfahrung gewesen. Doch es gab damals auch diejenigen, die gezwungenermaßen im Altersheim an der Pforte sitzen oder den Parkplatz bewachen mussten. Wollen wir tatsächlich dahin zurück?

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Für ambitionierte junge Menschen, die nach der Schule endlich durchstarten möchten – etwa als Sportler, Musiker oder auch in der Forschung –, wäre ein soziales Pflichtjahr verlorene Lebenszeit.

Und wer möchte ernsthaft von Menschen betreut, gepflegt oder auch nur unterrichtet werden, die eine solche Arbeit nicht gerne, sondern nur widerwillig tun? Dazu kommt: Ein Pflichtdienst kann nicht ersetzen, was in der Schule an Persönlichkeitsbildung versäumt wurde. Wer fürchtet, dass heutige Jugendliche zu ich-bezogen seien, sollte lieber dort ansetzen. Soziale Probleme kann man auch im Rahmen von Schulpraktika kennenlernen. Mehr Zeit für selbst gewählte Projekte würde es den Heranwachsenden ermöglichen, über den Tellerrand zu schauen und die eigenen Stärken zu entdecken.

Und wer sagt denn eigentlich, dass es besonders die jungen Menschen sind, die Horizonterweiterung brauchen? Warum hat beispielsweise nicht jeder Erwachsene das Recht, seinen Berufsalltag zu unterbrechen und – wenn er oder sie es denn möchte – eine Zeit lang als Freiwilliger im Kindergarten oder Flüchtlingsheim auszuhelfen?

Von solchen Möglichkeiten sind wir weit entfernt. Und solange es nicht mal für diejenigen, die freiwillig ein Ökologisches oder Soziales Jahr leisten wollen, genug Plätze gibt, ist die Forderung nach einem Pflichtjahr absurd.«

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Personalaudioinformationstext:   Wolfgang Kessler, geboren 1953, ist Chefredakteur von Publik-Forum. Er hat nach dem Abitur Zivildienst in einem kirchlichen Kinderheim geleistet und dabei viel über sich gelernt.
Andrea Teupke, geboren 1963, musste weder zur Bundeswehr noch Zivildienst leisten und vermisst das überhaupt nicht. Bei Publik-Forum war sie lange für Bildung und Erziehung zuständig und leitet jetzt das Ressort Leben & Kultur.
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Georg Lechner 04.12.2015, 17:47 Uhr:
Frau Teupke hat insbesondere in den beiden letzten Absätzen angerissen, wo der Hase im Pfeffer liegt: Es darf so gut wie nichts kosten, denn das Geld wird für die Durchsetzung der Interessen der Reichen bei den Auslandseinsätzen gebraucht. Das zeigt besonders der Vergleich mit Österreich, wo der damalige "Verteidigungs"minister anno 2003 erklärte, die Hauptaufgabe dees Heers sei nicht die Landesverteidigung, sondern, "der Wirtschaft den Boden aufzubereiten". Dieselbe Parteien, die bisher immer massiv auf einen NATO- Beitritt und die Teilnahme an internationalen Kampfeinsätzen gedrängt hatten, lehnten empört den Vorschlag zur Abschaffung der Wehrpflicht ab, weil damit der Zivildienst als Wehrersatzdienst automatisch auch gefallen wäre. Mit der Angstmache einer fehlenden Einsatzorganisation bei Katastrophen hatten sie auch beim Referendum den kalkulierten Erfolg. Auch in Ö. ist die Dauer des Zivildienstes länger als die Dauer des militärischen Präsenzdienstes.

Elmar Patzig 23.11.2015:
Zwölf Monate Sozialdienst freiwillig mit staatlichen Attraktionen (Mindestlohn sowie Anrechnung auf Studienplatzwerb etc.)
halte ich für eine wichtige Chance der
Gesellschaft zur Füllung wichtiger Nischen, wichtiger aber als
Orientierungsbaustein für sinnsuchende Menschen auf dem Weg ins Berufsleben.
Diese Möglichkeit sollte aber allen Altersgruppen offenstehen, die Dauer muss aber begrenzt bleiben,um keine Konkurrenz zum realen Arbeitsmarkt zu eröffnen.

Hintergrund:
Zwanzig Monate Zivildienst
sind eine sehr lange Zeit;
doch möchte ich sie nicht missen, denn sie
haben mich sehr geprägt mit vielen positiven Erfahrungen als Krankenpflegehelfer, mit grundguten Kollegen und dankbaren Patienten.
Allerdings auch der Umgang mit manchem ausnutzerischen Bürokraten war eine Bewährungsprobe. Die Dauer war aber damals schon grundgesetzwidrig länger als Grundwehrdienst plus fiktive Reservisteneinsätze.
Ein Pflichtjahr im Land des Reichsarbeitsdienst nie wieder zugelassen werden...

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