Ein Mädchen aus schambesetzten Verhältnissen
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Autofiktion. Nachdem die französische Schriftstellerin Annie Ernaux erst ihren Vater (»Der Platz«) und dann ihre Mutter (»Eine Frau«) porträtiert hat, beschreibt sie im vorliegenden Buch das Gefühl, das ihre Herkunft in ihr ausgelöst hat: »Die Scham«. Den Ursprung dieses Gefühls lokalisiert Ernaux in einem traumatischen Ereignis, als der Vater kurz vor ihrem zwölften Geburtstag die Mutter mit einem Beil bedrohte. Von nun an schämt sie sich, weil sie aus einer Familie stammt, in der so etwas passieren kann. Ernaux berichtet in schlichter Prosa mit soziologisch scharfem Blick von den Lebensbedingungen und Werten ihres Herkunftsmilieus: Ihre Eltern betrieben in der Normandie einen kleinen Laden mit angeschlossener Kneipe, über der sie in beengten Verhältnissen lebten. Die Tochter ging auf eine katholische Mädchenschule: Kirche und Bildung tauchen als Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs auf, zeigen aber auch Ideale, die in der Familie gerade nicht verwirklicht sind. Auch der katholischen Kirche gelingt es nicht, eine Gemeinschaft jenseits gesellschaftlicher Trennlinien zu etablieren: Bei einer gemeinsamen Pilgerfahrt von Vater und Tochter fühlen sich beide getrennt von den Mitreisenden aus anderen Schichten. Der Vater erlebt die nachlässige Behandlung in einem Restaurant als persönliche Kränkung, ein »Beweis für die Existenz zweier Welten und unsere Zugehörigkeit zur unteren«. Ernaux reflektiert auch, wie das Erlebte sie als erwachsene Frau prägt, die ihrer Herkunft längst entflohen war. So gelingt ihr, was große Literatur auszeichnet. Sie lässt die Lesenden ihre Welt und Gefühle mitempfinden, die nichts ungeschehen machen kann: »Die Scham ist die letzte Wahrheit.«