Antisemitismus
Auseinandersetzung gefordert
Das antisemitische Relief an der Stadtkirche in Wittenberg darf bleiben. So hat es der Bundesgerichtshof in letzter Instanz entschieden. Der jüdische Kläger, Michael Düllmann, wollte die Schmähskulptur von der Kirchenwand entfernt und in einem Museum verwahrt wissen. Die evangelische Kirchengemeinde Wittenberg hat darauf hingewiesen, dass sie 1988 ein Kunstwerk am Boden unterhalb des Reliefs angebracht habe. Darin heißt es, dass »Gottes eigentlicher Name (…) in sechs Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen« gestorben sei. Ein Aufsteller anbei klärt noch ausführlicher über den antisemitischen Hintergrund der Sandsteinplastik auf.
Das Gericht hat nun gewürdigt, dass die Gemeinde damit das »Schandmal« in ein »Mahnmal zum Zwecke des Gedenkens an die jahrhundertelange Diskriminierung und Verfolgung von Juden bis hin zur Shoah« umgewandelt habe. Aber das Gericht hat auch sehr deutlich gesagt, dass »kaum eine bildliche Darstellung denkbar ist, die in höherem Maße im Widerspruch zur Rechtsordnung steht«, als das Relief vor seiner Umwandlung: »Durch eine solche Darstellung wird unmittelbar der Geltungs- und Achtungsanspruch eines jeden in Deutschland lebenden Juden angegriffen.«
Und Wittenberg ist kein Einzelfall: In weiteren Kirchen gibt es ähnlich problematische Darstellungen. Bei vielen wurden mahnende Erklärungen beigefügt. Wo das bisher nicht geschehen ist, sollten sich die Kirchengemeinden nach diesem Urteil schnell etwas einfallen lassen. Dann aber ist eine im Stadtbild oder im Innenraum einer Kirche sichtbare Mahnung besser als das Museum, in das sich nur wenige Menschen verirren: Eine Irritation im Alltag, was im christlichen Deutschland »unter dem Kreuzeszeichen« normal war an Menschenhass, ist besser, als den Ausdruck von Hass und Verachtung wie eine Peinlichkeit zu verstecken.
Charlotte Horn 15.06.2022, 21:27 Uhr:
Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Wittenberger „Judensau“:
Auch ich habe bisher diese Haltung vertreten: die „Judensau“ und andere antijudaistische Darstellungen soll man zur Aufarbeitung der unsäglichen Geschichte christlichen Judenhasses nutzen und mit entsprechenden Erläuterungen, Veranstaltungen usw ist die nötige öffentliche Distanzierung geleistet.
Aber ich stelle das inzwischen in Frage. Ist das nicht Täterperspektive?
Gegenfrage: wäre irgendwo in einem Kriegsgebiet die Vergewaltigung einer Frau durch Soldaten verherrlichend dargestellt: würde man dann nach dem Krieg, wenn Frieden eingekehrt ist, tatsächlich entscheiden können: „Zur Aufarbeitung dieser Kriegsverbrechen stellen wir nun einige Erklärtafeln auf. Im übrigen ist es euch Frauen zumutbar, diese gemalten Szenen beim Vorbeilaufen jedesmal anzusehen? Schließlich ist das ein historisch vielfach belegtes Kriegsverbrechen, das wir damit im Bewusstsein halten wollen“?
Charlotte Horn, Köln