Pro und Contra
Deals mit der Letzten Generation?
Tim Wihl:
Die Bürgermeister von Hannover und Marburg handeln frei und demokratisch klug, wenn sie die störende, aber verfassungsfreundliche Letzte Generation integrieren und unterstützen, deren konkrete Forderungen moderat anmuten. Politischer Konflikt und Verständigung ereignen sich auf verschiedenen Ebenen. Einerseits handelt es sich um kommunikative Vorgänge der Überzeugung, die geistig-argumentativ strukturiert sind. Andererseits liegt dem politischen Konflikt eine kommunikativ letzthin unaufhebbare Interessenkollision zugrunde. Politische Amtsträger:innen müssen versuchen, kommunikativ so viele Interessenwidersprüche wie möglich zu »entschärfen«. Man denke an ein Unternehmen, dessen Führung mit der Verlagerung eines »unprofitablen« Betriebs droht. Solche Drohungen sollen Druck auf die Politik aufbauen, um gewisse Zugeständnisse zu erreichen, etwa eine Subvention. Mag die Konzession mal den Überzeugungen einer adressierten Bürgermeisterin entsprechen, könnte es sich genauso gut um eine bloße »Erpressung« handeln – die Amtsträgerin mag schlicht vor der Macht des Unternehmens einknicken, das der Gemeinde wichtige Steuermittel verschafft. Doch ist die Einordnung als Erpressung unangemessen. Sicher setzt man darauf, dass der Bürgermeisterin de facto »keine andere Wahl bleibt«. Das klingt zunächst nach Erpressung von Steuergeld. Gemäß der angesprochenen Zwei-Ebenen-Struktur politischer Konflikte wird man jedoch zugeben müssen, dass es das gute Recht der Unternehmensführung ist, ihre materiellen Interessen nicht nur ideell-geistig, sondern auch durch materiellen Druck zu verfolgen. Dabei sind Kommunikationswege zur Kompromisssuche politisch offenzuhalten. Eine demokratische Auseinandersetzung erkennt man daran, dass die Unternehmer:innen ebenso wie die Bürgermeisterin zu Gesprächen bereit sind – im besten Interesse aller Betroffenen. Nicht die Druckausübung macht den Konflikt demokratisch fragwürdig, sondern undemokratisch wäre erst die vollständige Ableugnung und Ersetzung der kommunikativen Dimension der Politik durch reinen Zwang.
Das Gleiche gilt für die Letzte Generation, eine Interessengruppe, die sich für ein verfassungsrechtlich anerkanntes Anliegen einsetzt (Art. 20a GG). Sie will zuerst das Klima, nicht Ertrag und Arbeitsplätze schützen; sie hat auch viel weniger Geld und Macht als ein Unternehmen. Dieses Defizit sucht sie durch teils nötigende und nur dann strafbare Sitzblockaden auszugleichen, eine an sich gerade wegen der Ohnmacht »diffuser« Interessen der vielen verfassungsgerichtlich anerkannte Protestform, die unter das Versammlungsgrundrecht fällt. Ihr Aktivismus rührt nur oberflächlich stärker an die »Ordnung« als die Unternehmensdrohung.
Nina Scheer:
Der Staat darf sich nicht erpressbar machen. Es ist verständlich, wenn Städte und Kommunen ihrerseits nach Lösungen suchen, um Konflikte zu schlichten. Allerdings sollte dabei immer der demokratische Rahmen im Fokus bleiben.
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Das Wesen unserer Demokratie ist es, politische Aufgaben durch gewählte Volksvertreterinnen und Volksvertreter, Regierungs- sowie legitimiertes Verwaltungshandeln erfüllen beziehungsweise ausführen zu lassen. Nur so lässt sich sowohl die Mitbestimmung aller wahlmündigen Bürgerinnen und Bürger als auch die Rechtsstaatlichkeit garantieren. Vertragliche Vereinbarungen zur Beendigung von Protesten, die an die Stelle von politischen Entscheidungsprozessen treten, unterwandern diese demokratischen Prinzipien. Mit dem Zweck, Proteste zu beenden, stehen sie für Erpressbarkeit und räumen unweigerlich lauteren Stimmen mehr Gewicht ein, als leiseren, aber gleichermaßen anzuhörenden. Verbreitet werden in politischen Prozessen Fachgremien oder Experten-Kommissionen eingesetzt, um sich entscheidungserheblichen Fragestellungen, die einer detaillierten Befassung bedürfen, intensiv zu widmen. Möglicherweise schwingt bei »Gesellschaftsräten« eine solche Idee mit. Entsprechende Gremien ersetzen dann aber keine durch demokratisch legitimierte Vertreter zu treffenden politischen Entscheidungen und sollten auch keinem solchen Anspruch folgen.
Gleichwohl gilt es, Klimaproteste in ihrer Zielrichtung und Motivation ernst zu nehmen. Schließlich werden mit ihnen im Kern Sorgen und Ängste vor Klimafolgeschäden deutlich und, dass wir als Gesellschaft möglicherweise nicht ausreichende rechtzeitige Maßnahmen zur Vermeidung oder Eingrenzung des Klimawandels unternehmen.
In Anforderung übersetzt heißt dies für mich: Es muss uns als Gesellschaft gelingen, die politischen Antriebe der Menschen für politische Entscheidungsprozesse – idealerweise in Parteien – zu gewinnen. Politische Forderungen gehören in Parteien und werden in Parteien gebraucht. Schließlich gibt es weltweit keine Demokratie, die nicht zugleich Parteiendemokratie wäre. Demokratien sind auf lebendige und mit den Fragen der Zeit befasste Parteien angewiesen. In Parteien müssen sich die politischen Gestaltungskräfte unserer Gesellschaft wiederfinden und um die bestmöglichen Umsetzungsschritte ringen.
Der gesellschaftliche Umgang mit entsprechend motivierten Protesten muss eine klare Sprache sprechen – sowohl zum Schutz der Protestierenden und unseres Rechtsstaates, als auch für konstruktive Klimaschutzpolitik.
Tim Wihl lehrt Öffentliches Recht und Neuere Rechtsgeschichte an der Universität Erfurt.
Nina Scheer ist Klimaschutz- und energiepolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion.
Klaus Tholsten 15.07.2023, 15:20 Uhr:
Die LG tut nichts für den Klimaschutz. Die wollen nur, dass andere etwas machen. Das Geklebe hat bis jetzt nur Abneigungen ggü Klimaaktivisten gestärkt. Für jeden Kleber, der losgelöst werden muss, sollte 1 km Autobahn gebaut werden und für jeweils 250 losgelöste Kleber sollten Kohlekraftwerke 1 Jahr länger laufen. Ausgaben für die Polizeieinsätze sollten dem Klimaschutzetat der Regierung genommen werden. So werden die schon überlegen, ob sie so weitermachen. An den Interviews der LG im TV sieht man auch, wie kindlich naiv die denken und die Zuschauer eher zum Grinsen bringen. Also ein klares Nein zur LG und ein Ja zum echten Klimaschutz ohne Kleben.
Stefan Müller 25.05.2023, 21:25 Uhr:
Vermutlich bin ich eines der Feindbilder der letzten Generation: autofahrender Anfang 50 jähriger.
Auch als solcher muss ich Torsten Sträter einfach recht geben:
würde die letzte Generation nur mit Wachsmalstiften Bilder malen würde ihnen niemand zuhören.
Und es stimmt ja, was sie sagen. In Berlin streitet die Politik episch über Wärmepumpen und eine zwingend notwendige Energiewende, von der noch niemand weiß, wie sie denn aussehen soll und wie man sie gegen diverse Lobbygruppen durchsetzen soll. Sofern sich Politiker finden, die das überhaupt wollen.
Die letzte Generation findet das unerträglich. Und das ist es auch.
Sie kleben sich auf Straßen fest und das Land empört sich in einer Weise, die mich fassungslos macht.
Da wird von einer „kriminellen Organisation“ gesprochen als seien sie die Mafia oder die RAF.
Es werden bundesweite Razzien durchgeführt.
Liebe Bundesrepublik Deutschland: gehts noch?
Ich sehe da die Verhältnismäßigkeit nicht mehr gegeben. Hört ihnen lieber zu
Karl Kuckhoff 10.05.2023, 12:00 Uhr:
Liebe Mitmenschen,
zu Beginn der Proteste, wurde "letzte Generation" sehr häufig genannt. In mir wurde etwas geweckt was erst Wochen später Form und Ton annahm. Ich hörte mich selber denken, .letzte Generation. von was? Oder wo vor? Zu vergleichen mit "letzte Tankstelle vor der Autobahn". Leztes Mc Donald vor der Vegan-Meile, oder letzter Lottogewinn vor dem Weltuntergang. Ihr wisst was ich meine. Das, was die Letzte Generation, vertreten durch alle Altersgruppen, da anrichtet ist Brand gefährlich. Ich sehe das Potential von Autofahrern die sich in ihrem Recht auf störungsfreies Fahren beschnitten sehen und irgendwann mehr als nur zuschlagen. Das gibt noch böses Blut. Hat eigentlich mal jemand ausgerechnet wie viel CO² durch diese letzte Generation zusätzlich produziert wird? Ich glaube kaum, dass die Selbstverklebten mit der Betonhand mit einem Minimum an Energie aus dem Straßenbelag "befreit" werden. Was passiert mit dem Kleber. Ist der umweltfreundlich? Was mit den Einsatzkräften?
Joachim Kloth 28.04.2023:
Ich finde es deprimierend, dass eine so prominente SPD-Klimapolitikerin wie Nina Scheer sich so äußert. Sie verwechselt Ursache und Wirkung. Der Staat ist nicht erpressbar, wenn er auf die (noch relativ bescheidenen) Forderungen der »Klimakleber« eingeht, sondern er macht(e) sich erpressbar, weil sämtliche Parteien im Bundestag darauf nicht eingehen – zum Teil entgegen ausdrücklicher Wahlversprechen.
Gerhard Loettel 28.04.2023:
Natürlich Deals mit der »Letzten Generation«! Nicht nur das, sondern mit Handlungsinitiativen das unterstützen, was sie anmahnen!
Markus Müller 28.04.2023:
Jeder Mensch muss die wissenschaftlichen Warnungen des IPCC vor dem Klima- und Ökosystemkollaps ernst nehmen und auch danach handeln. Wenn Bürgermeister entsprechend handeln, haben sie sehr gute Gründe für ihr Tun. Die Frage nach einem »Deal« oder einer »Erpressbarkeit« stellt sich dann erst gar nicht. Wir alle sind die »Letzte Generation vor den Kipp-Punkten«. Ich fürchte, vielen Menschen ist die Dramatik der Lage noch nicht bewusst. Sie nehmen ihre persönliche Verantwortung für eine gravierende Verhaltensänderung noch nicht wahr.
Markus Müller, 76199 Karlsruhe 30.03.2023, 20:44 Uhr:
Jeder Mensch muss die wissenschaftlichen Warnungen des IPCC vor dem Klima- und Ökosystemkollaps ernst nehmen und auch danach handeln.
Wenn Bürgermeister entsprechend handeln, haben sie sehr gute Gründe für ihr Tun.
Die Frage nach einem "Deal" oder einer "Erpressbarkeit" stellt sich dann erst gar nicht.
Wir alle sind die "Letzte Generation vor den Kipp-Punkten".
Ich fürchte, vielen Menschen ist die Dramatik der Lage noch nicht bewusst.
Sie nehmen ihre persönliche Verantwortung für eine gravierende Verhaltensänderung noch nicht wahr.
Dr.Loettel, Gerhard, Bad Kreuznach 30.03.2023, 11:32 Uhr:
Natürlich Daels mit der "Letzten Generation". Nein, nicht nur das, sondern mit Handlungsinitativen das unterstützen, was sie anmehnen. Wir sollten ihnen dankbar sein und sie anhören, wenn und weil sie uns eine Metapher, ein Menetekel, eine Mahnung zukommen lassen, die da heißt: "Seht "Wir" kleben noch an unserer MUtter Erde, die uns ernährt und Lebensraum gibt, während "Ihr" diese unsere Lebensgeberin vernichtet und zerstören wollt! Ihr seid schon dabei, weil ihr nicht genügend dagegen tut. Ihr macht Krieg, der atomar enden könnte, Ihr heizt die Atmosphäre auf mit immer mehr CO2 u.u.u."
Also lassen wir uns von diesen "Klebern" an der MUtter ERde und dem Leben belehren un d ermahmen und tun wir etwas.
Dr. Ing. Gerhard Loetel, Pfarrer i. R. KH
Reiner Neises 29.03.2023, 09:39 Uhr:
Die Letzte Generation macht es den Oberbürgermeistern leicht, Deals abzuschließen, weil sie genau wissen, dass der Forderungskatalog vollkommen unrealistisch ist und nichts davon umgesetzt werden wird. Ein Tempolimit wird es nicht geben, solange die Raserpartei FDP in der Bundesregierung ist. Ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket ist verkehrspolitscher und klimapolitischer Unfug. Schon das Deutschlandticket zum Einführungspreis von 49 € wird die Verkehrsverbünde an die finanzielle Belastungsgrenze bringen und ist für den notwendigen Ausbau des Angebots und der Infrastruktur kontraproduktiv. Ebenso grober Unfug ist die Forderung nach einem Klimaparlament mit zufällig ausgewählten Bürgern. Wenn ich in meinen beruflichen und privaten Umfeld sehe, wie nach wie vor bei offenen Fenstern die Heizungen hoch gedreht, welche Autos gefahren werden und wieder völlig gedankenlos in den Urlaub geflogen wird, graut mir vor den Ergebnissen solch eines Zufallsparlaments.
Georg Lechner 25.03.2023, 20:49 Uhr:
Frau Scheer geht von einer Idealvorstellung von Parteien aus, die längst nicht mehr zutrifft. Denn sie haben sich längst dem Druck der Rinnsteinblätter gebeugt, repräsentieren eher einen Mix aus Ochlokratie (= Herrschaft des Pöbels) und Plutokratie. Ganz dramatisch zeigt sich das im sogenannten Arbeitsübereinkommen zwischen ÖVP und FPÖ in Niederösterreich, das von Xenophobie und fehlender Sensibilität für Umweltfragen geprägt ist. Professor Ulrich H.J. Körtner kritisierte es ebenso wie EP-Vizepräsident Othmar Karas.