Pro und Contra
Gehört die Nakba-Ausstellung auf den Kirchentag?
Konrad Raiser: Ja!
Der Verein »Flüchtlingskinder im Libanon« hat sich, wie bereits bei fünf vorangegangenen Kirchentagen, für die Teilnahme am Markt der Möglichkeiten beim Kirchentag in Nürnberg beworben und wollte dabei auch die von ihm entwickelte Ausstellung »Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948« zeigen. Das Präsidium des Kirchentages hat zwar den Verein zugelassen, aber entschieden, dass die Ausstellung nicht gezeigt werden solle. Diese Entscheidung und ihre Begründung haben Widerspruch provoziert; auch meinen. Ich habe deshalb meine Teilnahme als Ehrengast am Nürnberger Kirchentag abgesagt.
Die 14 Tafeln der Ausstellung schildern aufgrund neuerer Forschungen von jüdischen und israelischen Historikern die Entwicklungen vor und nach der Gründung des Staates Israel, die zur »Katastrophe« von Flucht und Vertreibung der ursprünglichen palästinensischen Bewohner des Landes führten. Die Ausstellung bietet wichtige Ergänzungen und Korrekturen des offiziellen Geschichtsbildes. Sie hat viel Zustimmung und Unterstützung erfahren, aber auch immer wieder zu kontroversen Diskussionen geführt sowie scharfe Ablehnung provoziert.
Die jetzt vom Kirchentagspräsidium vorgebrachten Einwände sind freilich keineswegs neu. Sie sind alle im Zuge der Auseinandersetzung entkräftet worden. Das gilt für den Vorwurf der angeblichen Einseitigkeit wie auch für die Behauptung, die Ausstellung schließe die Diskussion, statt sie zu eröffnen. Die bisherigen Erfahrungen bei früheren Kirchentagen beweisen das Gegenteil. Die Ausstellung will Diskussionen anregen in der Überzeugung, dass nur so eine Versöhnung der miteinander streitenden Erinnerungen auf jüdisch-israelischer und arabisch-palästinensischer Seite möglich ist.
Der Markt der Möglichkeiten ist der richtige Ort für diese Diskussion. Die damalige Generalsekretärin des Kirchentages, Ellen Überschär, wies 2013 und 2017 die Forderung nach einem Verbot der Ausstellung zurück und schrieb 2013 an den Verein: »Das ist das Ziel des Marktes – Dialoge zu ermöglichen. Allein das haben wir geprüft und unser Eindruck war und ist, auch aus den Erfahrungen der Vergangenheit, dass Sie die Bereitschaft zu diesem Dialog haben. Daher besteht keine Veranlassung, an der Zulassung Ihres Standes etwas zu ändern.«
Deshalb ist es sehr bedauerlich und nicht »kirchentagsgemäß«, dass das Präsidium dem Druck derjenigen nachgegeben hat, die diesen Dialog verhindern wollen. Angesichts der erneut zugespitzten Krise in Israel/Palästina ist es umso wichtiger, die Ausstellung erneut zur Diskussion zu stellen. Sie gehört auf den Kirchentag und auf den Markt der Möglichkeiten.
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Maria Coors: Nein!
Die sogenannte Nakba-Ausstellung ist inhaltlich mangelhaft und bietet keinen Raum für kritische Selbstreflexion. Das trägt dazu bei, dass wichtige Diskussionen im jüdisch-christlichen Dialog gerade nicht stattfinden können. Es ist richtig, dass der Deutsche Evangelische Kirchentag sie nicht erneut zeigt. Die bereits 2008 konzipierte Ausstellung thematisiert die Geschichte der Flucht und Vertreibung arabischer Menschen im Zusammenhang mit der Staatsgründung Israels. Sie stellt dabei wichtige historische Kontexte sehr verkürzt oder überhaupt nicht dar. Dazu gehört die Tatsache, dass Jüdinnen und Juden seit der Antike in diesem Gebiet leben. Dazu gehören die vielseitige Geschichte des Zionismus, die Vertreibung der meisten Jüdinnen und Juden aus Ländern der arabischen Welt sowie die von arabischer Seite ausgehenden Kriegshandlungen vor und nach dem UN-Teilungsbeschluss von 1947. Sehr verkürzt dargestellt ist auch der Kontext der Shoah. Der Genozid machte die Idee eines jüdischen Staates als sichere Zuflucht zu einer Notwendigkeit für viele Überlebende und bis heute zu einer Versicherung für jüdische Menschen weltweit. Die Darstellungen der Ausstellung bleiben hier unterkomplex.
Die Besucherinnen und Besucher eines Kirchentages wollen sich mit sich selbst und der Welt kritisch und kontrovers auseinandersetzen. Diese Reflexion aber fehlt der Ausstellung: Aus welcher Perspektive schauen wir auf die Ereignisse in Israel/Palästina 1948 und heute? Was ist unsere Rolle? Die selbstkritische Auseinandersetzung mit der Shoah gehört zu den Kernthemen der Kirchentagsbewegung. Nur auf dieser Grundlage konnte ein erneuerter jüdisch-christlicher Dialog wachsen.
Die Auseinandersetzungen um die Ausstellung haben gezeigt, dass sie keine neuen Gesprächsräume erschließt. Sie gefährdet das Vertrauen unserer jüdischen Partnerinnen und Partner – in einer Zeit, in der offener Antisemitismus deutlich zunimmt. Die demokratischen Grundstrukturen des jüdischen Staates sind aktuell beispiellos gefährdet. Dies stellt eine enorme Gefahr für das Leben vieler Menschen in Israel/Palästina und für die Lebensversicherung von Jüdinnen und Juden weltweit dar. Eine Ausstellung, die durch Verkürzung und Auslassung wichtiger Tatsachen den Antisemitismus nährt, ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich.
Ich bin froh, dass der Deutsche Evangelische Kirchentag sich dieser Themen auf der Grundlage des vertrauensvollen christlich-jüdischen Dialogs annimmt. Das lässt keinen Platz für eine fehlerhafte und demagogische Ausstellung.
Konrad Raiser, evangelischer Theologe, war von 1992 bis 2003 Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen.
Maria Coors, Historikerin und evangelische Theologin, ist Mitglied des Vorstands der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag.
Eva-Maria Götte-Schmidt 10.05.2023, 04:20 Uhr:
Ich fühle mich heute, nachdem ich davon gehört habe, wie der Staat Israel gegründet worden ist, von der pro-israelischen Stimmung der 70-ger Jahre betrogen.
Wie konnte nur jemand glauben, man könne die ursprüngliche Bevölkerung einfach in die Wüste schicken und auf dieser Grundlage einen Staat aufbauen????
Verena Grüter 08.05.2023, 06:37 Uhr:
Die Ausstellung aus Furcht vor Antisemitismus zu verbieten halte ich für falsch. Ideologien werden durch offene Debatten dekonstruiert, nicht durch Verschweigen. Wer das den Palästinensern zugefügte Unrecht bewusst verschweigt, nährt damit den Verdacht, die Täter zu schützen. Die Argumentation von Frau Coors bedient alte Muster, indem sie sozusagen ein Anrecht jüdischer Menschen auf das Land historisch begründet, dabei aber die Tatsache ausblendet, dass arabische Menschen dort ebenfalls Heimat gefunden haben. Wie "vertrauensvoll" kann ein Dialog sein, wenn er die (auch historische) Wahrheit einseitig auf Kosten der Opfer verkürzt?!
Peter Dieling 07.05.2023, 15:37 Uhr:
In Deutschland werden wir aus meiner Sicht sehr gut mit Informationen über Israel und die Shoah versorgt; über das Schicksal des palästinensischen Volkes erfährt man da nicht so viel. Es wäre zur Förderung der freien Meinungsbildung hilfreich, wenn eine solche Ausstellung öffentlich gezeigt werden könnte. Schade dass sich die Kirchentagsleitung nicht dazu durchringen kann. Meine Vermutung ist, dass dies weniger wegen der angeblichen Einseitigkeit der Ausstellungsinhalte geschieht, sondern weil man Angst vor Eskalationen hat.
Adelheid und Hartmut Flach 05.05.2023, 20:54 Uhr:
Ich danke für die klare Haltung von Konrad Raiser.
Wir sind sehr erschrocken,über das Verbot der wichtigen Ausstellung.
Das ist für uns auch der Grund, dass wir nicht am Kirchentag teilnehmen.
Joachim Schlüter 05.05.2023, 15:37 Uhr:
Ich kenne die Nakba-Ausstellung nicht, habe auch noch nie von ihr gehört; deshalb mit allem Vorbehalt:
Vor einem Jahr hätte ich noch Herrn Raiser rundum zugestimmt. Aber nach meinen Erfahrungen auf der documenta 15 bin ich äußerst skeptisch, was Äußerungen und Publikationen von palästinensischer Seite angeht, die nicht unmittelbar und unabhängig kommentiert werden. Denn Dialoge ergaben sich in Kassel nicht.
Anna Lisa Raschper 05.05.2023, 12:37 Uhr:
Ein Kirchentag der die Nakbar Ausstellung nicht zeigen will - verrät für mich die christlichen Werte. Bei aller Solidarität zu Israel, darf das Leid der Palästinenser nicht verharmlost und Verschwiegen werden. Bis heute leiden die Menschen in der Westbank und Gaza unter täglichen Menschenrechtsverletzungen - und die Welt schaut zu.
Sehr gern wäre ich zum Kirchentag gekommen - aber so möchte ich dieser Kirche nicht angehören.
r. Dittus 04.05.2023, 14:00 Uhr:
Ich kann einerseits nachvollziehen, dass so eine Ausstellung antisemitische Haltungen fördern kann, andererseits sollte den Palästinensern für ihre berechtigten Anliegen (Zweistaatenlösung) Raum gegeben werden. Im übrigen: Gewalt geschieht auf beiden Seiten! Und sollte meditativ beendet werden. Ich sehe keine andere Lösung.
Ingrid L. 02.05.2023, 16:57 Uhr:
Ein Bedürfnis, Hintergrundwissen zu erhalten, ist sicher groß. Die Autoren der Ausstellung hatten genügend Zeit, Sachverhalte entsprechend der neuen Forschung darzustellen, kritisierte Falschinformationen zu korrigieren, fehlende Informationen einzuarbeiten. Ist das nicht geschehen? Dann sollte auf eine solche Ausstellung, die sich den Mantel des Historischen umhängt, verzichtet werden, bis sie Grundlage für eine wirklich zielführende Diskussion um die Zukunft ist: Wie wollen wir miteinander leben?
Katharina von kellenbach 02.05.2023, 09:25 Uhr:
Die Ausstellung ist historisch (also faktisch) an vielen Stellen falsch. Und eine bessere Zukunft kann nicht auf dem Boden falscher Geschichtsschreibung gemacht werden. Wir sind aber alle an einer besseren Zukunft interessiert. Deshalb brauchen wir gute Geschichte, keine Mythenbildung.
Leo H. 02.05.2023, 08:50 Uhr:
Die Auseinandersetzung der Nakba und auch dem aktuellen Leiden der Palästinenser:innen ist dringend notwendig, auch im Rahmen eines theologischen Diskurses wie er auf dem Kirchtag gepflegt wird. Die Nakba Ausstellung wurde allerdings bereits von unterschiedlichen Seiten als tendenziös, mangelhaft und in der historischen und politischen Darstellung als unterkomplex kritisiert. Diese Mängel sind nicht zufällig sondern tendenziell antisemitischen topoi zuzuordnen, auch christlichen. Insofern hat der Kirchentag eine besondere Verantwortung für eine differenzierte Auseinandersetzung. Differenzierter als eine tendenziöse Ausstellung die seit 2008 kritisiert wird und auch seitdem mit dem Aufschrei "Sprechverbot" droht.
Monika Schwarzenböck 01.05.2023, 10:36 Uhr:
Die Wahrnehmung der Nakba ist dringend notwendig, um überhaupt den Nahost-Konflikt und damit auch die Lage der Palästinenser:innen zu verstehen. Nur mit der Anerkennung auch deren Leids und der weiteren Folgen bis heute werden langfristig Schritte in Richtung friedlichen Zusammenleben möglich.Palästinensische u n d jüdische Menschen haben ein Recht auf unser Interesse und unsere Empathie. Frühere Kirchentage haben diese Ausstellung gezeigt und wichtige Diskussionen ausgelöst - ist das nicht auch der Sinn solcher Events?
Monika Schwarzenböck
Johannes Maier 01.05.2023, 06:10 Uhr:
Ich frage mich ernstlich, ob der Deutsche Evangelische Kirchentag 2023 in Nürnberg seinem Anliegen durch diese Entscheidung nicht erheblich schadet.
Wenn sein Anspruch ist, unterschiedliche Sichtweisen ins Gespräch zu bringen, dann unterstützt er - vielleicht unbewußt - diejenigen, die die Politik der israelischen Regierungen gegenüber den Palästinensern verteidigen und damit eine Zweiklassengesellschaft rechtfertigen. Nämlich die Ideee, ein zugleich jüdischer und demokratischer Staat sein zu wollen.
Für die Regierung Israels folgt daraus, ein Ja zu Menschenrechten und Bürgerrechten für jüdische Israelis, für nicht-jüdische Israelis und die palästinensische Bevölkerung in den besetzten Gebieten ein Nein.
Der Kirchentag unterstützt so leider eher die Sicht der AFD und der extremen Rechten.
Herbert Babel 30.04.2023, 19:24 Uhr:
Es geht fast nicht mehr um das Thema, es geht auch darum wie der Deutsche Evangelische Kirchentag mit den zahlreichen Protesten gegen das Verbot der NAKBA-Ausstellung des Vereins Flüchtlingskinder im Libanon e. V. umgeht und desse Stellungnahme vom 18.03.2023.
Dieses überkommene konsistoriale Obrigkeitsgetue gegenüber engagierten evangelischen Christen in einer demokratischen Gesellschaft widert mich an!
Es kommt einem die Frage auf, wovor oder vor allem vor wem hat der Kirchentag Angst?
Bea 29.04.2023, 10:56 Uhr:
Schade.... Diese Ausstellung wäre eine notwendige andere Sicht auf den Konflikt gewesen. Meiner Meinung nach werden die Informationen zur Meinungsbildung im kirchlichen Raum gerade zu diesem Konflikt sehr einseitig gehalten!
Friederike Leuthe 28.04.2023, 14:33 Uhr:
Ja, finde ich schade, dass den Verantwortlichen des Kirchentags der Mut fehlt diese Ausstelung zu ermöglichen.
Ich hoffe die Ausstellungsmacher finden eine Möglichkeit diese Ausstellunng über ihre Website und einen öffentlich zugänglichen QR-Code doch zugänglich zu machen.
Die Komplexität der Nöte, die durch die Gründung des Staates Israels und das Leiden das auf vielen Seiten dadurch entstand und auch die Hoffnung und Freude an einer (neuen und alten) Heimat ist besser verständlich, wenn es diese Ausstellung gibt, auch wenn sie vielleicht manches nicht bis in die Tiefe darstellt. Der Weg zueinander wird auch für Juden und Palästinenser nur über Mitgefühl möglich werden. Dazu könnte sie hilfreich sein.