Pro und Contra
Geht es im Wahlkampf zu wenig um politische Inhalte?
Matthias Drobinski:
Ja – die Politik droht pubertär zu werden!
Hat der CDU-Kandidat an unpassender Stelle gelacht? Die grüne Konkurrentin in ihrem Buch abgeschrieben? Der Mann von der SPD auf einem Foto ungeheuerlicherweise Angela Merkels Daumen-Zeigefinger-Raute nachgemacht? Man könnte meinen, dass diese Fragen die Bundestagswahl entscheiden, nicht die Antworten der Kandidierenden auf Klimakrise, Steuerpolitik, Afghanistan-Desaster. Die Form schlägt den Inhalt; der zuspitzbare Randaspekt rückt in die Mitte, was nicht mit 280 Twitter-Zeichen gesagt ist, treibt an den Rand. Die Politik bekommt so einen pubertären Zug; es droht der Hormonüberschuss bis zum 26. September.
Die Könige im Mittelalter hatten zwei Körper: den des Amtes und den der Person; der Herrscher konnte ein Schurke sein und regierte doch von Gottes Gnaden. Helmut Kohl mag noch so gedacht haben. Das ist vorbei: Zu Recht wird der Charakter des Friedrich Merz verhindern, dass er Kanzler wird. Doch die Sache ist inzwischen umgekippt. Amt und Person müssen ununterscheidbar eins, Politikerinnen und Politiker jederzeit authentisch sein – und fehlerlos. Doch wer authentisch ist, macht Fehler. Und schon bricht das Netz-Gewitter los und das der Medien, so gnadenlos, dass jedes apokalyptische Weltgericht wirkt wie eine Therapiesitzung.
Kann man das nicht erwachsener angehen? Man muss nicht mit Frau Baerbock in Urlaub fahren, Herrn Scholz heiraten, Herrn Laschet als Überraschungsgast auf dem runden Geburtstag haben wollen. Man soll sie nach dem bewerten, wofür sie inhaltlich und politisch stehen, welche Perspektiven sie für die kommenden vier Jahre den Wählerinnen und Wählern bieten. Unangemessene Lacher, abgeschriebene Bücher und geklaute Gesten kann man dann immer noch doof finden.
Constantin Wißmann:
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Wege zu einer Wirtschaft, die nicht zerstört.»Hinter diesem Buch steckt mein Traum von einer Wirtschaft, die ohne Zerstörung auskommt. / mehr
Nein, der Charakter ist wichtig!
Die Klage darüber, dass die Inhalte im Wahlkampf eine zu geringe Rolle spielen, ist wohl so alt wie die Demokratie. Gern übrigens vorgetragen vom politischen Gegner. Oder von Journalistinnen und Journalisten, die dann aber trotzdem persönliche Fehltritte der Kandidatinnen und Kandidaten genussvoll ausschlachten. Dabei übertreiben sie manches – und der Umgang miteinander sollte anständig bleiben. Aber im Prinzip ist es ganz richtig, die Bewerber unter die Lupe zu nehmen, das gehört zu einer Demokratie dazu. Denn wir wählen nicht nur Programme, sondern auch Menschen.
Natürlich ist es nicht unwichtig, welche Dinge jemand als die größten Herausforderungen unserer Zeit ansieht, und wie sie angegangen werden sollen. Aber lässt sich das überhaupt jetzt schon sagen? Die Welt ist eben unberechenbar. Daher sind Programme nur begrenzt aussagefähig. Im Prinzip können Parteien hineinschreiben, was sie wollen. Sie hätten etwa in keinem Parteiprogramm 2017 etwas zum konkreten Umgang mit einer weltweiten Virus-Pandemie lesen können. Auch die Finanzkrise 2008 mussten die Menschen lösen, die nun einmal an der Politikspitze standen, auch wenn sie sich zuvor nie dazu geäußert hatten. Daher ist ihre Persönlichkeit entscheidend. Können sie mit schwierigen Partnern verhandeln, auch unter Höchststress ruhig bleiben? Haben sie den Mut, einen für sie richtigen Weg zu wählen, wenn es nur falsche zu geben scheint? Sind sie energisch, durchsetzungsstark, aber auch mitfühlend und kompromissbereit? Niemand ist das alles zu gleichen Teilen. Aber bei der Wahl werden Menschen gesucht, die diesem Ideal nahekommen. Der Wahlkampf vermittelt uns eine Ahnung davon, welche Personen das sein könnten. Eine Erfolgsgarantie ist es nicht. Aber sie werden ja wieder zur Wahl stehen.
Matthias Drobinski, geboren 1964, ist Reporter bei Publik-Forum.Constantin Wißmann, geboren 1981, ist Redakteur bei Publik-Forum.
Christof Bretscher 24.09.2021:
Persönlichkeiten, Werte, Ziele, persönliche Integrität, Weitblick und Parteiprogramme sind in der Politik wichtig, aber unzureichend. Denn die politische Kompetenz im Sinne einer überprüfbaren beruflichen Qualifizierung existiert nicht – in keinem Land der Welt, einfach, weil sie gar nicht definiert wird. Von allen Parteien bewusst nicht, behaupte ich. Tatsächlich bräuchte sie Verfassungsrang, da Wählerinnen und Wähler erst dann eine wirkliche Wahl hätten. Alle Programme und Ziele brauchen kompetente Menschen für ihre Umsetzung. Die sind schlicht bei keinem Regierungsmitglied nachweisbar. Jeder kann erzählen, was er will. Das ist unser großes Problem und das ist demokratiegefährdend.
Walter Montigny 24.09.2021:
Beide Kontrahenten liegen richtig und falsch und es ist eher unbedeutend. Die Satire auf der letzten Seite führt mehr zum Ziel. Es bleibt dem Wähler nicht erspart, sich zu informieren um selbstständig mit seinem Verstand eine Entscheidung zu treffen – Möglichkeiten zur Information dazu gibt es genügend. Die verwässerten, nichtssagenden, nervenden, sich immer und immer wiederholenden Schachtelsätze der Bewerber sind absolut nicht geeignet, Wählerinnen und Wähler zu informieren. Plakate sind rausgeschmissenes Geld. Mal ganz abgesehen davon, dass die Glaubwürdigkeit oder Kompetenz der Kandidatinnen und Kandidaten (Gedächtnislücken, politisches Verhalten) durch ihr eigenes Verhalten beschädigt ist. Orientiert an Fakten, und die muss man sich suchen, ist die Möglichkeit einer Fehlentscheidung gering.
Franz Foltz 07.09.2021, 15:35 Uhr:
Natürlich ist der Charakter einer Frau oder eines Mannes, der sich für ein solches Amt bewirbt, von entscheidender Bedeutung. Wir erleben doch im beruflichen wie privaten Umfeld, wie wichtig positive charakterliche Eigenschaften sind, gerade wenn es um zukünftige Krisen und ihre Bewältigung geht.
Ich möchte auf keinen Fall, dass ein Mann, der angesichts eines u.U. entschuldbaren Vergehens zu Lug und Betrug greift, in einer landesweiten Krise über Wohl und Wehe der Bürger*innen Deutschlands entscheiden müsste. Schon im Kleinen zeigen sich Schwächen, die kein noch so ausgefuchstes Programm ausgleichen kann. Es sind immer noch die Menschen, die letztlich entscheiden und keine Handlungsoptionen, die vorher großspurig angekündigt wurden.
Monika und Christof Bretscher 28.08.2021, 15:51 Uhr:
Persönlichkeiten, Werte, Ziele, persönliche Integrität, politische Kompetenz und Weitblick, Parteiprogramme, Alles in Ordnung und dennoch unzureichend. Denn die politische Kompetenz im Sinne einer überprüfbaren politisch beruflichen Qualifizierung existiert nicht. In keinem Land der Welt, einfach, weil sie gar nicht definiert wird. Von allen Parteien bewußt nicht, behaupte ich. Tatsächlich bräuchte es Verfassungsrang, da Wählerinnen u. Wähler erst dann auch eine wirkliche Wahl hätten. Alle Programme u. Ziele brauchen kompetente Menschen für ihre Umsetzung. Die sind schlicht bei keinem Regierungsmitglied nachweisbar. Jeder kann erzählen was er will. Das ist unser großes Problem und das ist demokratiegefährend.
Wen also wählen? Die Kandidaten/in bringen nicht weiter, ihre Parteien auch nicht. Die kleineren wählen? Verfassungswidrige oder Alt-DDR Linke und deren Nachfahren? Freie oder freie Demokraten?
Elke Schumacher - Abonnent 28.08.2021, 11:34 Uhr:
Die Fragestellung ist m.E. unklar. Natürlich geht es sowohl um politische Inhalte als auch um die Persönlichkeit der Bewerber um eines der höchsten politischen Ämter.
Spontan hätte ich "ja" angekreuzt, aber nach der Lektüre bin ich voll auf der Argumentationslinie von Herrn Wißmann, stimme also mit "nein". Wahlprogramme sind oft das übliche blablabla, die von den Parteien selbst nach der Wahl wieder in der Versenkung verschwinden. Und die absolut inhaltsleeren Wahlplakate sprechen auch ihre eigene Sprache.
Herrn Drobinski empfehle ich die Satire auf der Rückseite.
Insa Geppert 27.08.2021, 17:06 Uhr:
Natürlich ist der Charakter der Politikerin oder des Politikers, die wir für wählbar halten, wichtig - aber bestimmt der Charakter nicht auch, welche Politik von ihm/ihr erwartet werden kann? Der kleinste Fehler eines Kandidaten wird vom politischen Gegner mit Wonne aufgebauscht; dabei macht doch jeder Mensch - auch einer mit vorbidlichem Charakter - mal Fehler. Große Fehler machen natürlich für eine Wahl untauglich, aber kleinere - wie die von Matthias Drobinski erwähnten - können wir doch wohl getrost verzeihen, wenn das geplante Programm des Kandidaten akzeptiert werden kann. Für mich persönlich steht und fällt die Wählbarkeit zur Zeit mit dem Anpacken des Uweltschutzes, der die größte Herausforderung für die ganze Welt ist.
Matthias 24.08.2021, 16:08 Uhr:
Nicht die Persönlichkeit ist der Kompass; denn sonst haben wir weiterhin Regenten im Stile von Kohl, Schröder und Merkel (und sowohl Laschet als auch Scholz fahren diesen Weg weiter).
Es muss endlich ein Konzept des Handelns im Mittelpunkt stehen: das muss die Werterichtschnur für alles Handelns sein. Und genauso war das mit der parlamentarischen Demokratie auch gemeint - drum wählen wir keinen Kanzler oder Kanzlerin direkt - und das ist auch gut so.