Pro und Contra
Lohnt es sich, kleine Parteien zu wählen?
Andreas Klee: Ja!
Als Fan von Werder Bremen kennt man das Gefühl: Schon vor Beginn einer neuen Fußballsaison ahnt man, dass es wohl wieder nichts wird mit der Meisterschaft. Doch deshalb nicht antreten? Auf keinen Fall! Vielleicht gelingt ja eine Überraschung, vielleicht kann man die Großen ärgern. Und wer weiß – irgendwann könnte man wieder ganz oben mitspielen. Genau diese unvorhersehbaren Momente machen den Fußball so besonders.
Ähnlich verhält es sich mit Wahlen: Auch hier gibt es Favoriten und prominente Akteure, die die Wahlerfolge unter sich ausmachen. Doch was ist mit den anderen? Sind sie deshalb bedeutungslos? Im Gegenteil.
Bei der kommenden Bundestagswahl stehen 41 sogenannte Kleinparteien zur Wahl, die vermutlich keine Mandate gewinnen werden. Dennoch haben sie die anspruchsvollen formalen Voraussetzungen des Bundeswahlausschusses erfüllt und haben bereits dadurch einen Raum für gelebte Beteiligungsdemokratie geboten. Doch sie leisten noch mehr. Gerade durch ihre Unkonventionalität benennen Kleinparteien gesellschaftliche Konflikte oft frühzeitig, sprechen unbequeme Themen an und besetzen inhaltliche Nischen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Themen später den Mainstream prägen. Ein Beispiel dafür ist der Aufstieg der Grünen in den 1980er-Jahren: Was einst als kleine Protestpartei (1,5 Prozent bei ihrer ersten Teilnahme an einer Bundestagswahl) begann, hat die deutsche Politiklandschaft nachhaltig verändert.
Kleinparteien bieten Menschen eine Plattform, um Unzufriedenheit auszudrücken, und halten zugleich extreme Positionen im Kontakt mit dem demokratischen System. Als Herausforderer, Ideengeber und manchmal auch Provokateure bereichern sie den Parteienwettbewerb und sorgen dafür, dass auch die großen Parteien sich weiterentwickeln müssen.
Wahlen sind der Moment, in dem die Vielfalt einer Gesellschaft sichtbar wird. Es geht darum, möglichst alle Meinungen und Interessen zu berücksichtigen. Um demokratische Regierungen zu legitimieren, ist es essenziell, dass die Bevölkerung breit repräsentiert wird. Hier spielt nicht nur die Wahlbeteiligung eine Rolle, sondern auch die Diversität der zur Wahl stehenden Parteien und ihrer Wählerinnen und Wähler. Aktuellen Prognosen zufolge erreichen Kleinparteien am 23. Februar zusammen bis zu neun Prozent der Stimmenanteile. Diese Stimmen und die dahinterstehenden Menschen dürfen nicht übersehen werden. Wie im Fußball haben also auch hier die vermeintlich Kleinen eine große Aufgabe!
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Hilal Sezgin: Nein!
Wenige Menschen werfen an der Wahlurne ihren Umschlag ein in dem guten Gefühl: »Das sind die Richtigen!« Für die allermeisten von uns reicht ein: »Das ist das kleinste Übel.« – Und es ist auch richtig so, sich mit diesem Motto zufriedenzugeben. Denn es gibt zu viele wichtige Themen, als dass eine Partei sie alle befriedigend abdecken könnte. Zumal wenn eine Partei schon Regierungserfahrung hat, war sie sicher bereits an scheiternden Projekten und schiefen Kompromissen beteiligt. Da liegt die Versuchung nahe, eine Kleinstpartei zu wählen, die sich auf wenige Themen konzentriert und die nie in die Situation kommen wird, ihre Ideale zu kompromittieren – die aber immerhin noch Ideale besitzt! Also symbolisch wählen statt strategisch?
Doch symbolisch zu wählen ist in der momentanen Situation nicht zu vertreten. Von wegen »Brandmauer« – es brennt doch die Hütte! Die Rechten lauern überall und jagen den progressiven Parteien jede Stimme ab, die sie bekommen können. Sie manipulieren die Öffentlichkeit mit erfundenen »Fakten«, mit Bots und mit Hetze. Der Rechtsruck ist nicht nur unaufhaltbar, er ist schon in voller Fahrt. In dieser Situation brauchen wir jede Stimme – und zwar nicht für die hehren Ideale, sondern für jede konkrete Kandidatin, jeden Kandidaten, jeden Platz im Parlament.
Und mit »wir« meine ich: all diejenigen, die nicht in Deutschland geboren wurden oder die zwei Pässe haben und gegen die die AfD Deportationsideen hegt. Alle, die darauf angewiesen sind, dass man sich in Deutschland kunterbunt kleiden und lieben darf, wen man/frau/mensch will. Alle, die besonders verwundbar und darauf angewiesen sind, in Kliniken oder von der Polizei nicht als Mensch zweiter Klasse behandelt zu werden. Alle, die jemanden lieben, für den oder die eins von dem Gesagten gilt – also wir alle. Wir alle brauchen jetzt die geballte parlamentarische Kraft gegen die Erosion unserer Demokratie.
Das heißt nicht, dass symbolische Politik komplett unwichtig wäre. Der Einspruch gegen etablierte Ungerechtigkeiten, die »unrealistischen« Forderungen, die Utopien: Sie sind für jede soziale Bewegung unerlässlich. Aber der passende Ort für solche symbolische, idealistische Politik ist in diesen bedrohlichen Zeiten nicht das Wahllokal. Dafür müssen wir auf die Straße gehen, mit den Enkeln sprechen, manchmal den Nachbarinnen widersprechen; Bücher schreiben, Zeitschriften lesen, gute Internetlinks verschicken. Hier zählen Visionen, Vielfalt, Differenzierung. Nur an der Wahlurne muss es jetzt ganz pragmatisch zugehen: alle Stimmen gegen Rechts.
Andreas Klee ist Professor für Politikwissenschaften an der Universität Bremen und dort Direktor des Zentrums für Arbeit und Politik (ZAP).
Hilal Sezgin ist Philosophin und Publizistin. Zuletzt erschien von ihr »Vom fordernden und beglückenden Leben mit Tieren«.