Pro und Contra
Politiker und Politikerinnen auf TikTok?
Lutz Liebscher: Ja!
Vor allem junge Menschen nutzen die Kurzvideoapp TikTok sehr intensiv. Schon längst ist die Plattform keine reine Unterhaltungsplattform mehr, sondern wird von jungen Menschen auch als Nachrichten- und Informationsquelle genutzt. Man kann sich wünschen, dass die individuelle Meinungsbildung über Tageszeitung, Tagesschau und Spiegel Online erfolgt. Allerdings sollte man nicht ignorieren, dass sich der Nachrichtenkonsum insbesondere der jüngeren Generationen stark gewandelt hat und vor allem über Social-Media-Kanäle wie TikTok oder Instagram erfolgt.
Politik und Institutionen müssen auf dieses Nutzerverhalten reagieren und ihre Informationen auch auf Plattformen wie TikTok bereitstellen. Zu lang haben die demokratischen Parteien, Politiker und Institutionen den Rechtsextremen und Verschwörungsideologen die Plattform überlassen. Diese hatten frühzeitig erkannt, welches Potenzial sie für die Verbreitung ihrer Inhalte hat.
Von Anfang an habe ich mich mit der Kritik an der Plattform TikTok beschäftigt: zum Beispiel, was die Funktionsweise, den Schutz vor Hassrede und Desinformation oder Fragen des Datenschutzes angeht. Nach den beeindruckenden landesweiten Demonstrationen für Demokratie und Menschlichkeit zu Beginn des Jahres gibt es jetzt auch eine Initiative auf TikTok, die unter dem Hashtag #reclaimtiktok im Netz gegen Rechtsextremismus vorgeht. Das freut mich sehr. Denn: Die Politik sollte dort sein, wo die Menschen sind. Das gilt auch für den digitalen Raum. TikTok bietet Politikern und Politikerinnen die Möglichkeit, die eigene Blase zu verlassen und Menschen zu erreichen, die auf der Straße um den Infostand einer Partei einen Bogen machen würden. Natürlich können komplexe Sachverhalte nicht in 30-Sekunden-Videos erklärt werden oder eine tiefere Auseinandersetzung mit einem Sachverhalt ersetzen. Was Politikervideos auf TikTok aber leisten können, ist, eine erste grobe Bewertung zu einem Thema anzubieten – oder überhaupt erst einmal Aufmerksamkeit für ein Thema zu erzeugen.
Es wäre ein großer Fehler, TikTok Parteien wie der AfD zu überlassen, welche die Plattform strategisch nutzen, um ihre Sichtweisen zu verbreiten, zu verunsichern, zu spalten und zu hetzen. Deshalb ist es gut, dass inzwischen viele Politikerinnen und Politiker auf TikTok aktiv sind, zum Beispiel SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley oder die Grünen-Kandidatin Terry Reintke. Aber noch mehr demokratische Parteien sollten es sein und sich Gedanken machen, wie sie ihre Positionen »TikTok-gerecht« aufarbeiten. Nur so kommt der wichtige Austausch mit der jungen Generation zustande.
Julia Witte: Nein!
Viele Politiker und Politikerinnen haben TikTok bisher gemieden. Aus gutem Grund: Die App weiß, wann und wo die Nutzer welche Videos ansehen. Wahrscheinlich gibt sie die Daten der Nutzenden auch an die chinesische Regierung weiter. 2022 haben TikTok-Angestellte über die App US-Journalisten ausspioniert, die kritisch über den Konzern berichtet hatten.
TikTok ist ein Sicherheitsrisiko. Deshalb ist die App auf Diensthandys der EU-Kommission und Teilen der Bundesregierung verboten. Der US-Senat will die App landesweit verbieten, wenn sie sich nicht vom chinesischen Mutterkonzern trennt.
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Aber es geht nicht nur um Datensicherheit. Nur weil rechtsextremistische Kräfte auf TikTok erfolgreich sind, heißt das noch lange nicht, dass andere Parteien dort ebenso erfolgreich sein können. Denn welche Inhalte Reichweite bekommen und welche nicht, entscheidet der Algorithmus von TikTok.
Und der ist nicht auf der Seite von Politik-Machenden, die sachlich und freundlich argumentieren. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung berichtet die Kommunikationswissenschaftlerin Katharina Kleinen-von Königslöw von ihrer Untersuchung politischer TikTok-Videos zur bayerischen Landtagswahl im letzten Jahr. Ihr Ergebnis: Die Grünen hatten bei ihrer TikTok-Kampagne auf positive Emotionen und wissenschaftliche Erkenntnisse gesetzt – mit begrenztem Erfolg. Besonders erfolgreich waren dagegen Negativkampagnen, bei denen jemand abgewertet wurde.
TikTok bestimmt die Spielregeln der Plattform, ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Auswirkungen zu nehmen. Das kennen wir schon von anderen Social-Media-Konzernen wie Facebook. Das soziale Netzwerk hatte wissentlich hingenommen, dass seine Empfehlungsmechanismen zu politischer Radikalisierung führen. Twitter galt als wichtige Plattform für politischen Diskurs. Dann wurde sie von einem durchgeknallten Milliardär gekauft und innerhalb von Monaten zerlegt.
Wenn Politiker und Politikerinnen ihre öffentliche Kommunikation jetzt auf TikTok verlegen, machen sie ihre Reichweite wieder abhängig von den Launen großer Plattformkonzerne. Diese könnten jederzeit ihre Regeln ändern, wenn mehr Profit oder Marktmacht winken.
Wir können uns aus dieser Abhängigkeit befreien, denn es gibt Alternativen, zum Beispiel das »Fediverse«. Das ist ein unabhängiges und dezentrales Netzwerk, das von vielen Organisationen und Ehrenamtlichen aufgebaut wird. Als Digitalcourage setzen wir uns ein für eine lebenswerte Welt im digitalen Zeitalter. Und dafür brauchen wir gute Plattformen, die wir gemeinsam gestalten.
Lutz Liebscher ist SPD-Landtagsabgeordneter in Thüringen. Seit 2020 erstellt er Inhalte auf TikTok.
Julia Witte ist Redakteurin und Campaignerin bei Digitalcourage.
Manu 16.05.2024, 09:31 Uhr:
Solange nicht erwiesen ist, dass TikTok schadet, sollen auch Politiker es nutzen dürfen.