Pro und Contra
Wahlrecht für Familien?
Barbara Tambour:
Ja, um der Zukunft willen!
Ein Fünftel der deutschen Bevölkerung – die Kinder und Jugendlichen – ist von der politischen Mitbestimmung durch Wahlen ausgeschlossen. Dadurch werden ihre Interessen nur zu leicht übergangen – gerade, wenn es um Zukunftsfragen geht.
Doch die politischen Entscheidungen von heute bestimmen das Leben unserer Kinder in zwanzig oder dreißig Jahren. Am gerade beschlossenen Kohleausstiegsgesetz sieht man, dass die Prioritäten bei den Unternehmen und bei den jetzigen Arbeitnehmern liegen. Die Interessen der jungen Generation werden vernachlässigt, denn mit einer Laufzeit der Kohlekraftwerke bis 2038 wird in Kauf genommen, dass die 1,5-Grad-Grenze bei der globalen Erwärmung überschritten wird und massive Klimafolgen eintreten. Die kommenden Generationen werden unter den Konsequenzen der heutigen Fehlentscheidungen leiden. Auch in Gegenwartsfragen wie der Stadtplanung, der Verkehrs- und der Sozialpolitik kommen die Interessen von Kindern, Jugendlichen und Familien zu kurz.
Ein Familienwahlrecht könnte das ändern und zu mehr Nachhaltigkeit in der Politik führen, da Politikerinnen und Politiker einen längeren Zeithorizont vor Augen hätten. Wie es funktionieren soll? Man müsste von einem Wahlrecht von Geburt an ausgehen, das von einem Elternteil so lange treuhänderisch für das Kind wahrgenommen wird, bis das Kind oder die Jugendliche sich selbst ins Wählerverzeichnis einschreibt – egal ob das mit acht Jahren, mit 13 oder mit 16 Jahren der Fall ist. Ein »stellvertretend wahrgenommenes Wahlrecht« klingt gewöhnungsbedürftig. Doch wie Demokratie organisiert wird, ist dem Wandel unterworfen. Auch das Frauenwahlrecht musste erstritten werden.
Anne Strotmann:
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Nein, das ist der falsche Weg!
Um es gleich zu sagen: Kinder und Jugendliche sollten unbedingt politisches Mitbestimmungsrecht haben. Doch ein treuhänderisches »Familienwahlrecht« ist nicht der richtige Weg.
Solch ein Wahlrecht würde das Grundgesetz verletzen, laut dem in »allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt« wird. Würden etwa eine Mutter oder ein Vater (praktische Probleme vorprogrammiert) für einen anderen (das Kind) wählen, wäre die Wahl weder unmittelbar noch gleich. Einige Bürgerinnen, nämlich Eltern Minderjähriger, hätten dann mehr Stimmen als die anderen. Man könnte das juristische Problem beseitigen und die »gleiche« Wahl aus dem Grundgesetz streichen, aber dann gäbe es auch keinen Grund mehr, die Anzahl der Stimmen nicht auch von anderen Faktoren, wie etwa vom Alter abhängig zu machen, etwa mit der zynischen Begründung, Alte sollten weniger Stimmen haben, weil sie nicht mehr so lange leben – eine gruselige Vorstellung.
Problematisch ist auch, dass in einer nicht-unmittelbaren Wahl der Elternwille den Willen des Kindes ersetzen würde. Dabei könnte es ja sein, dass die zehnjährige Tochter eigentlich gern die Grünen wählen würde, ihr Vater, der die Stimme abgibt, aber findet, die AfD sei viel besser für ihre Zukunft. Wie kann sie sich dagegen wehren? Dass Menschen, die Kinder haben, für diese andere Wahlentscheidungen treffen, vermeintlich ökologischere und sozialere, wurde von Umfragen widerlegt: Die Verantwortung für minderjährige Kinder beeinflusst das Wahlverhalten nur unwesentlich. Die Einführung eines Familienwahlrechts würde also einfach nur eine bestimmte Gruppe, nämlich Eltern, privilegieren. Das wäre undemokratisch. Wer Kinder und Jugendliche politisch beteiligen will, der sollte also nicht über ein treuhänderisches Familienwahlrecht, sondern besser über eine Senkung des Wahlalters nachdenken.
Barbara Tambour ist Redakteurin
bei Publik-Forum
Anne Strotmann
ist Redakteurin
bei Publik-Forum