Pro und Contra
X wegen Elon Musk verlassen?
Christian Pietsch: Ja!
Ich war mal Twitter-Fan. Die himmelblaue Twitterwolke verdunkelte sich, als Twitter die Posts der Leute, denen ich folgte, nicht mehr in zeitlicher Reihenfolge anzeigte, sondern in einer, die ein geheimer Algorithmus für mich bestimmte. Das durfte ich abschalten, aber Twitter schaltete es immer wieder um.
Dann kam Elon Musk und kaufte Twitter. Weil ich nicht gern ungefragt verkauft werde, wandte ich mich dem Fediverse zu – der Social-Media-Alternative von unten. Das konnte man inzwischen mit einer Software namens Mastodon nutzen, die Twitter ziemlich ähnlich ist. Ich betrieb sogar einen Mastodon-Server, heute sind es bereits zwei. Nach dem Verkauf und der Umbenennung verlor ich das Interesse an der Plattform, auch weil die Stimmung dort immer giftiger wurde. Und ich hatte ja eine bessere Alternative gefunden.
Andere sahen diese Alternative nicht und wurden von Musk als Geiseln genommen. Twitter wurde zerstört. Musks Untaten alle zu beschreiben, dafür ist hier kein Platz.
Drei Beispiele will ich nennen: Der erste Skandal entstand, als Joe Bidens Tweet zum Super Bowl mehr Beachtung fand als ein Tweet von Musk. Musk wies seine Softwareentwickler an, das zu ändern. Seither werden Musk-Tweets vom geheimen Algorithmus aufgewertet, damit sie fast allen seinen Followern angezeigt werden.
Skandal 2: Auf Musks Geheiß wertet X Posts ab, die Links enthalten. Belegte Aussagen werden so weniger sichtbar, Desinformation wird begünstigt.
Skandal 3: Musk greift in Wahlkämpfe ein. Es ist schwer zu sagen, wie viel er dazu beigetragen hat, dass Donald Trump wieder Präsident wurde. Sicher ist, dass Musk der brasilianischen Regierung, die X regulieren will, gedroht hat, dass sie nicht wiedergewählt wird. Zuvor griff er die deutsche Bundesregierung an, weil sie zu wenig gegen Seenotrettung unternehme, wobei er sich die rassistische Verschwörungserzählung der AfD von der »Umvolkung« zu eigen machte.
Publik-Forum EDITION
»Das Ende des billigen Wohlstands«
Wege zu einer Wirtschaft, die nicht zerstört.»Hinter diesem Buch steckt mein Traum von einer Wirtschaft, die ohne Zerstörung auskommt. / mehr
Auf X sind nur deshalb noch so viele Menschen, weil da so viele Menschen sind. Soll man das FOMO (fear of missing out) oder Stockholm-Syndrom nennen? Gerade habe ich mich zum ersten Mal seit 2023 wieder bei X eingeloggt – um meinen Account zu löschen. Begrüßt wurde ich von Eigenwerbung: »X is the world’s town square.« Twitter war tatsächlich mal ein wichtiger Marktplatz der Ideen. Musk hat diesen Marktplatz in eine Waffe verwandelt. Geld reicht ihm nicht mehr. Er will Macht. Seine Munition sind die User. Deshalb muss es heißen: Entwaffnet Musk!
Wolf Lotter: Nein!
Der Gründer des Spiegels, Rudolf Augstein, hat auf die Frage nach seiner größten Lebensleistung einmal gesagt, dies wäre sein »Rückzug aus Russland« zum Ende des Weltkriegs gewesen. Es kommt auf den Kontext an. Augstein hatte im verlorenen Krieg alles richtig gemacht. Sein Rückzug war eine Leistung. Wer glaubt, der Rückzug aus Elon Musks Plattform X wäre eine Heldentat, liegt hingegen falsch.
Ihr Rückzug ist kein Akt der Vernunft, sondern realitätsfremd. Die AfD, die FPÖ, Putin, Xi und Musks Kumpel Trump – um nur mal einige zu nennen – haben gelernt, dass ihre Gegner jede Menge Petitionen unterschreiben. Außerdem verkünden sie in pathetischen Statements ihre moralische Entrüstung, um dann so schnell wie möglich das Weite zu suchen oder, wie im Fall der Ukraine, wegzuschauen. Diese neue Appeasementpolitik funktioniert hervorragend. Damit wird die demokratische Öffentlichkeit verschenkt, das wichtigste Gut im Kampf gegen die Totalitären.
Rückzug löst das Problem nicht, dass auf X und anderen Kanälen Menschen denunziert, beleidigt, herabgewürdigt werden. Das liegt auch daran, dass anonyme Heckenschützen in diesen Medien stets geduldet und damit gefördert wurden. Wer darauf hinwies, wurde als Feind der freien Meinungsäußerung abgekanzelt. Aber Klarnamen schaffen klare Verhältnisse, auch rechtlich. Das ermutigte die Täter. Das wird auf sozialen Netzwerken wie Bluesky, Mastodon, und was da noch kommen mag, nicht anders sein.
Dass viele Normalnutzer so naiv sind, ist traurig – doch bei Medienprofis ist es peinlich und unprofessionell. Sie müssten wissen, dass ihr Rückzug eine Einladung an Extremisten ist, ihre verbalen und faktischen Kampfzonen auszuweiten. Die fühlen sich durch den Auszug zu Bluesky und Threads ermutigt, dort auch mal Fuß zu fassen – und sie sind ja auch schon da, natürlich. Bluesky ist kein Lala-Land der Guten: »Die Realität geht nicht weg, wenn du nicht daran glaubst«, sagte Philip K. Dick.
Das ist keine Übung, kein Spiel mehr. Alle Kanäle müssen genutzt werden, echte Demokraten müssen ihre Gegner stellen und konfrontieren. Die gängige Politik, sich in gefährlicher Harmonie zu üben und »Eyes wide shut«-mäßig so zu tun, als ob die ganze Entwicklung rundum nur ein schlechter Traum ist, das ist längst ein Komplize des Bösen geworden.
Deshalb geht es nicht um X, um Bluesky, oder um Musk. Es geht um Courage und darum, dass Leute, die sonst mit großem Pathos auftreten, auch ein wenig davon auf die Piste kriegen. Walk the talk also. Alles andere ist nur Selbstgerechtigkeit.
Christian Pietsch arbeitet in einer Hochschulbibliothek. Er setzt sich mit der Gruppe Datenpunks für eine grundrechtewahrende Digitalisierung ein. Zusammen mit Leena Simon verfasste er die Broschüre »Fediverse. So geht Social Media«.
Wolf Lotter ist Wirtschaftsjournalist, Buchautor, und war Gründungsmitglied von brand eins. Er ist seit 2011 auf Twitter und dann X aktiv und seit einem Jahr auf Bluesky.