Verliebt in ein vielgeschmähtes Transportmittel
Reiseliteratur. Jaroslav Rudiš trägt eine Brille. Das ist der einzige Grund, warum er kein Lokführer geworden ist, kein Bahnhofsvorsteher oder Stellwerksleiter. Denn die Tschechoslowakische Staatsbahn, bei der er in seiner Jugend gern angefangen hätte, wollte damals keine Mitarbeiter mit Sehschwäche haben. Stattdessen ist Rudiš Schriftsteller geworden, hat preisgekrönte Romane und Graphic Novels geschrieben, ist nach Berlin gezogen, hat das Bundesverdienstkreuz bekommen. Aber verliebt in die Bahn ist er noch immer. Diese Liebe durchzieht die »Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen«, die er jetzt für die renommierte Reisebuchreihe aus dem Piper-Verlag geschrieben hat, von der ersten bis zur letzten Seite. Der Autor nimmt seine Leserschaft mit in den Zug durch Mitteleuropa, fährt im Speisewagen von Hamburg nach Prag, von Berlin bis zum Gotthardtunnel, von Sizilien bis nach Lappland. Bald riecht man den Geruch der Lokomotiven, hört das Seufzen der Räder, das Klacken der Kuppelstangen, schmeckt das Bier in den Bahnhofsgaststätten und freundet sich mit den Tauben in den Bahnhofshallen an. Rudiš nennt alle Loks mit ihren Kosenamen, erläutert ihre technischen Raffinessen, vergleicht die Bahnhöfe mit Kirchen und Kathedralen. Zugleich erzählt er in bewegenden Details die Geschichte und politischen Auswirkungen des Eisenbahnausbaus in den unterschiedlichen Landstrichen Europas. Verspätungen, Zugausfälle, verpasste Anschlüsse? Für Jaroslav Rudiš ist das kein Grund zur Aufregung, sondern immer auch eine Chance, noch ein bisschen im Bahnhof zu sitzen, den Gleisarbeitern zuzuschauen. Und dann vielleicht doch in eine andere Richtung zu fahren, als er ursprünglich vorhatte. Das Buch ist eine Liebeserklärung an ein vielgeschmähtes Transportmittel, das hier zu einem wunderbar eigenen Kosmos wird, in den man allerorten mit einer einfachen Fahrkarte eintauchen kann.
Zugreisen. Piper. 256 Seiten. 15 €