Film
Wenn Sehnsüchte nicht mehr zueinander passen
Kino. »Bleib mal schön hier!«, sagt Juditha zu ihrem Mann Erik, wodurch er, frisch pensioniert und voller Tatendrang, mal wieder von ihr ausgebremst wird. Es ist einer von vielen Sätzen, die Erik zunehmend belasten. Mehr als 30 Jahre ist das Paar verheiratet – und sich zugetan wie am ersten Tag. Juditha leidet seit Langem an Multipler Sklerose, doch sie kann am Stock gehen und sich mit Greifarmen behelfen – noch. Ratschläge für wirksamere Medikamente, Physiotherapien, eine Haushaltshilfe, gar eine Pflegekraft blockt sie mit dem Satz »Willst du einen Kaffee?« ab. Juditha will Erik nun ganz für sich und ihren Lebensabend in ihrem Garten und mit der Beobachtung von Vögeln verbringen. Ihre Scham über ihr zunehmendes körperliches Versagen treibt sie umso mehr dazu, sich zu verkriechen. Der pensionierte Professor aber hegt seit Langem Sehnsüchte, träumt vom Segeln, einem zweiten Studium, vom fröhlichen Beisammensein auch mit anderen Menschen. Und je mehr Juditha klammert, umso mehr wird dem Bonvivant das traute Heim zum Gefängnis. Er fühlt sich von »den Wänden erdrückt«, die Brust wird ihm immer enger. Herzanfälle und Panikattacken zwingen ihn zu einer Entscheidung. Die erwachsene Tochter fällt aus allen Wolken, erlebt sie doch zum ersten Mal ihre sonst so unkomplizierten Eltern als heillos in ihre Konflikte verstrickt.
Die Tiefenschärfe und Detailbeobachtung dieses unprätentiösen Ehedramas verraten, dass es von eigenen Erfahrungen inspiriert ist. Der anfangs lautlose Kampf um die Erfüllung der jeweiligen Bedürfnisse, Judithas fortschreitende Hilflosigkeit, die Verzweiflung zweier Liebender, die nicht mehr mit und nicht ohne einander können: die fatale Paardynamik wird von exzellenten Schauspielern beglaubigt und geht auch der Zuschauerin ans Herz. In zugespitzter Form wird in diesem Ehe-Psychogramm nicht nur die Frage aufgeworfen, wie viele Kompromisse man im letzten Lebensabschnitt einzugehen bereit ist. Feinfühlig und ohne Wertung macht der Debütfilm deutlich, wie schwer es überhaupt ist, sich selbst in seinen Wünschen zu erkennen.