Falsche Ideale – lange gefördert
Der Bayerische Rundfunk (BR) hat neue Recherchen über die katholische Integrierte Gemeinde (IG) veröffentlicht, wonach hochrangige Amtsträger frühzeitig über Missstände in dem ehemaligen Reformprojekt informiert gewesen seien. So hätten die Münchener Kardinäle Friedrich Wetter und Reinhard Marx schon 2003 und 2011 Kardinal Ratzinger über Missstände informiert – ohne selber einzuschreiten. Ratzinger galt als ein enger Vertrauter und Förderer der Integrierten Gemeinde.
Die ist in den 1960er-Jahren von Traudl Wallbrecher in München gegründet worden und war ein Reformprojekt innerhalb der katholischen Kirche. In einer eigentümlichen Mischung aus engem Gemeinschaftsleben und gepflegter Bürgerlichkeit verfolgten die Mitglieder das Ziel, in allen Lebensbereichen die christlichen Ideale zu leben. Als Erzbischof von München hatte Joseph Ratzinger die Integrierte Gemeinde 1978 als apostolische Vereinigung offiziell anerkannt, obwohl schon damals Kritik am Umgang der Gemeinschaft mit ihren Mitgliedern aktenkundig war.
In einer eindrücklichen Podcastreihe und einer Fernsehdokumentation des BR berichten ehemalige Mitglieder darüber, dass ihnen verboten wurde, zu heiraten oder Kinder zu bekommen, Ehen wurden gestiftet oder auch getrennt, Beruf und Wohnort durch die Gemeindeleitung bestimmt. Auch finanziell wurden die Mitglieder ausgebeutet, indem sie zu hohen Spenden gedrängt wurden bis zur teilweisen Aufgabe der Altersvorsorge. Über öffentliche Beichten in der Gemeindeversammlung wurde starker Druck ausgeübt. Theologisch wurde dies alles als »Ganzhingabe« gedeutet. Die Gemeinde und deren Bedürfnisse galten als Verkörperung von Gottes Willen an die einzelnen Mitglieder.
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Erst im Jahr 2020 ist die Gemeinde im Erzbistum München und Freising von Marx aufgelöst worden, ohne eine Mitverantwortung des Erzbistums für die lange Förderung der Gruppe anzuerkennen. Auch andere Bistümer lösten die dortigen Ableger auf. Im selben Jahr hat sich auch Ratzinger von der Gemeinschaft distanziert: »Offensichtlich wurde ich über manches im Innenleben der IG nicht informiert oder gar getäuscht, was ich bedaure«, schrieb er in einem Beitrag für die Herder-Korrespondenz. Auf Anfrage des BR ließ der ehemalige Papst nun wissen, dass er sich nicht mehr an den Brief von Kardinal Wetter aus dem Jahr 2003 erinnern könne. In der BR-Fernsehdokumentation erklärt der Jesuitenpater Klaus Mertes dazu: »Wenn ich als Vorsitzender der Glaubenskongregation von Bischöfen vor Ort solche Briefe erhalte, dann bin ich in meiner Leitungskompetenz angefragt und ich muss bereit sein, als leitende Person in einen schweren Konflikt hineinzugehen.«
Ehemalige Mitglieder der Gemeinde leiden bis heute unter den psychischen Folgen ihrer Zeit in der Gemeinschaft. Außerdem versuchen einige, Entschädigungen für ihre finanziellen Verluste zu erhalten.