Atmen
Nachts habe ich schwere Träume. Ich träume vom Zugfahren an den Orten meiner Kindheit. Ich verpasse den Ausstieg und weiß nicht, wo der Weg nach Hause ist. Ich träume, ich will meine Kinder abholen und werde daran gehindert, sodass sie in den Notdienst müssen. Ich bin in fremden Städten: in Berlin, in Tokio. In Cafés sitzen Menschen an Tischen, jeder einzeln. Ich will mich dazusetzen, aber ich darf nicht.
Diese Schwere. Es geht nicht nur mir so. Es rührt mich, als mein alter Vater mir erzählt, dass er träumte, er werde wieder zum Militär einberufen. Er versucht sich rauszuwinden: Kann ein Achtzigjähriger noch eine Waffe tragen?
Am Tag bin ich zu Hause und versuche im Homeoffice zu arbeiten und mit den Kindern Schulaufgaben zu machen. Ich überwinde mich, eine Routine aufrechtzuhalten: kochen, essen, arbeiten, Film schauen, spielen, rausgehen, einkaufen in Schlangen. Vernünftig sein. Abends kommt mein Mann nach Hause, dem gerade immer mehr Aufträge wegbrechen. Ich vermeide es, zu oft Nachrichten zu hören. Immer wieder überkommen mich Momente, wo sich alles irrsinnig anfühlt.
Früh am Morgen, wenn ich noch nicht ganz da bin, gibt es diesen kurzen Moment, wo ich glaube, dass alles gut ist. Meine Träume fallen mir erst später ein. Im Bett liegen und die Vögel hören, nicht denken. Atmen.
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Dies ist ein Beitrag im Rahmen des Erzählprojektes von Publik-Forum »Die Liebe in Zeiten von Corona«. Wir laden unsere Leserinnen und Leser ein zu unserem Erzählprojekt: Bitte schreiben Sie uns Ihre Erfahrungen, Nöte, Ängste und Ihre Zuversicht in Zeiten von Corona.