Das Stück von Bach
Ich habe mich in der letzten Wochen immer wieder am frühen Morgen an die Orgel in der Matthäuskirche in Marburg gesetzt. Die Kirche bleibt in der Corona-Zeit offen, deshalb kommen manchmal Besucher herein, vielleicht angelockt nicht nur von der offenen Tür, sondern auch vom Klang der Orgel. Dann wechsle ich das Programm und spiele, was schon »fertig« ist, denn beim Üben zuzuhören ist nicht immer ein Ohrenschmaus. Kürzlich kam eine Frau herein, die ich ihrer äußeren Erscheinung nach in den Kreis der Wohnungslosen einordnete: abgetragene Kleidung, strubbelige Haare (die allerdings auch ich habe in Ermangelung meiner Friseurin), eine volle, alte Plastiktüte in der rechten Hand … und so kam sie zögernd näher, blieb etwa zwei Meter neben mir stehen. Ich begrüßte sie und fragte, ob ich ihr helfen könne. »Spielen Sie hier immer Orgel?«, wollte sie wissen. Ich erklärte ihr, dass ich in dieser Kirche einer der beiden Organisten bin. »Darf ich Sie etwas fragen?« und trat noch einen Schritt vor. »Gerne!« »Können Sie mal das Stück von Bach spielen?« Ich geriet in Schwierigkeiten: »Welches Stück meinen Sie denn?« »Ich weiß nicht! Ich habe es im Radio gehört.« »Aber Bach hat sehr, sehr viel geschrieben, da müsste ich schon wissen, welches Sie gehört haben.« »Es war das Stück von Bach!« Ich schlug vor, ihr etwas aus Bachs »Orgelbüchlein« vorzuspielen. Sie war einverstanden, rückte wieder näher und staunte, dass »das ganze Buch nur voll von Bach« war. Ich spielte »Heut‘ triumphieret Gottes Sohn«, ein Prachtstück, wenngleich ich es hätte vorher einmal üben müssen. Nach dem brausenden Schlussakkord verharrten wir beide für einige Momente schweigend. Ich löste die Stille: »War es ›das‹ Stück, das Sie gehört haben?« »Ich weiß es nicht! Aber das war jetzt auch schön! Vielen Dank!« – und ging.
Mir geht diese kleine Begegnung nach: Wie schön, dass ein Mensch, der klassischen Musik offenbar eher fern, doch so berührt wurde von »dem Stück« von Bach – und ohne Corona wäre die Matthäuskirche verschlossen gewesen und nie hätte ich der Frau etwas vorspielen können, was sie »auch schön« fand.
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