Der Baum der Hoffnung
Ein Dialog zu Zeiten des Coronavirus
Als ich gestern an meine liebe Freundin Alexandra denken musste, schickte ich ihr eine E-Mail: »Wie geht es dir in diesen Zeiten?« Sie mailte ein Foto zurück. Ohne Kommentar. Den hat es auch nicht gebraucht. Das Foto hat zu mir gesprochen – hier unser Dialog.
DER BAUM: Guten Morgen, Gerhard.
GERHARD: Guten Morgen, Baum. Wie geht es dir?
DER BAUM: Rundum gut!
GERHARD: Wirklich?
DER BAUM: Es könnte nicht besser sein. Die Sonne scheint,
im Erdreich ist genügend Wasser, sodass ich blühen und
gedeihen kann. Und du?
GERHARD: Ich mache mir Sorgen.
DER BAUM: Worum denn?
GERHARD: Um meine Gesundheit. Wegen des Coronavirus. Ich
gehöre nämlich zu einer Hochrisikogruppe.
DER BAUM: Weil du schon so alt bist?
GERHARD: Na ja, 69, das geht eigentlich noch, doch im
Sommer, wenn ich erst mal 70 bin ...
DER BAUM: Dass ich nicht lache. Sieh mich an, ich bin 93.
GERHARD: Donnerwetter! Dann hast du dich aber gut gehalten.
DER BAUM: Man tut, was man kann. Und dir macht also der
Coronabefall Sorgen.
GERHARD: Wem nicht!
DER BAUM: Hast du denn gar keine Hoffnung? Keine Kraft?
GERHARD: Also nicht, dass ich gar keine hätte ...
DER BAUM: Aber?
GERHARD: Aber ob ich genug habe, anderen davon abzugeben?
DE BAUM: Musst du das denn?
GERHARD: Müssen nicht. Aber wollen schon.
DER BAUM: Und warum?
GERHARD: Weil ich das als Künstler immer so gehalten habe,
ob ich Blues gesungen, Märchen erzählt, Sketche gespielt
oder Kolumnen publiziert habe.
DER BAUM: Und was hindert dich zu hoffen?
GERHARD: Der Tod. Dass ich sterben könnte. Dass Tausende
sterben könnten.
DER BAUM: Ach so, der Tod. Na ja ...
GERHARD: Nun mach bloß nicht so den Dicken. Was ist denn,
wenn es nächste Woche Stein und Bein friert?
DER BAUM: Dann erfrieren meine Blüten und sterben ab.
GERHARD: Siehst du!
DER BAUM: Aber ich hoffe, dass es nicht frieren wird, und
wenn doch, dass nicht alle meine Blüten absterben. Da
halte ich mich an Vaclav Havels Satz: »Hoffnung ist nicht
die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die
Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.«
GERHARD: Meinst du etwa, das Coronavirus hätte Sinn?
DER BAUM: Unser Leben hat Sinn, auch wenn wir sterben
müssen. Deshalb ist das Leben ja so kostbar: WEIL wir
sterben müssen.
GERHARD: Ja schon, allgemein betrachtet, aber bei mir ...?
DER BAUM: Ich wünsche dir, dass du überlebst ...
GERHARD: Danke. Und dir wünsche ich keinen Nachtfrost!
DER BAUM: Warte, ich war noch nicht fertig mit meinem Satz:
Ich wünsche dir, dass du überlebst, um auch den Tod
annehmen zu können.
GERHARD: Dein Wort in Gottes Ohr.
DER BAUM: Und pass auf dich auf.
GERHARD: Du auch auf dich. Ich danke dir.
Publik-Forum EDITION
»Das Ende des billigen Wohlstands«
Wege zu einer Wirtschaft, die nicht zerstört.»Hinter diesem Buch steckt mein Traum von einer Wirtschaft, die ohne Zerstörung auskommt. / mehr
______
Alle Beiträge des Erzählprojektes »Die Liebe in Zeiten von Corona«
______
Jeden Morgen kostenlos per E-Mail: Spiritletter von Publik-Forum
Dies ist ein Beitrag im Rahmen des Erzählprojektes von Publik-Forum »Die Liebe in Zeiten von Corona«. Wir laden unsere Leserinnen und Leser ein zu unserem Erzählprojekt: Bitte schreiben Sie uns Ihre Erfahrungen, Nöte, Ängste und Ihre Zuversicht in Zeiten von Corona.
Alexander Sachs 16.04.2020, 08:17 Uhr:
Ich finde die Geschichte sehr schön, außergewöhnlich und sie gibt Hoffnung!
Monika sroka 11.04.2020, 07:37 Uhr:
In dieser Zeit denke ich besonders an unsere alten Menschen in Senioreneinrichtungen , die keine persönlichen Besuche von außen haben dürfen!!im Herbst ihres Lebens so etwas erleben zu müssen , tut sicher sehr weh!!viele haben die Kriegsjahre miterlebt..... genau so intensiv denke ich an alle werdenden Eltern , die ihren Nachwuchs schon haben oder bald erwarten! In welche Zukunft kommt dieser neue Erdenbürger?? Wir haben etwas Schlimmes , sogar tödliches in der Umwelt , wir können es nicht offensichtlich sehen , nur die Folgen sind zu sehen und spüren! „ Die Welt hat uns in unser Zimner geschickt, wir sollten mal überlegen was wir getan haben“ .....