Eine besondere Freude
… und dann war da noch der 21-jährige Jaiden. Seit sieben Jahren gehört er zum Centro Afro, immer bescheiden und unaufdringlich, ein stiller Beobachter und interessierter Gesprächspartner, der sich stundenlang vor einer Weltkarte aufhalten und mit hellwachem Verstand in ihm unbekannte Themen einarbeiten kann. Seine Kenntnisse zur Menschheitsgeschichte und aktuellen Weltpolitik beeindrucken mich ebenso wie sein Interesse für Heilkräuter und eigene Schokoladenproduktion. Woher nimmt der Junge diese klugen Fragen, woher die Klarheit seiner Überlegungen? Wenn ich in dem Alter nur so sensibel beobachtet und tiefsinnig reflektiert hätte.
Jaiden kommt aus einer ganz bescheidenen Familie mit vier Geschwistern. Seine Mutter ist Dorflehrerin und hat die Kinder allein großgezogen. Der Weg zu ihrem einfachen Holzhäuschen führt über den wackeligsten aller Holzstege in unserem Viertel. Als er und sein Zwillingsbruder vor zwei Jahren das Abitur abgelegt hatten, gab es eine Feier mit stilvoller Einladungskarte, zu der außer einem Onkel und der Nachbarin nur meine Kollegin Jenny und ich eingeladen waren. Wir wurden mit Eintopf und Sekt verwöhnt. Jaiden und seine Mutter hielten eine Rede. Sie waren so stolz und ich unendlich gerührt. Trotz seiner zurückhaltenden Art, bei der man anfangs den Eindruck hat, dass er etwas länger zum Verstehen braucht als andere, hat Jaiden auf Anhieb die Aufnahmeprüfung für die Universidad Nacional geschafft. Eine Ausnahme, in vielerlei Hinsicht.
Vor drei Wochen stand er dann auf einmal vor meiner Tür, mit seiner Plastikflöte in der Hand, und spielte von draußen »Freude schöner Götterfunken«. Jaiden kann keine Noten lesen, aber er hatte diese Melodie irgendwo gehört und fand sie schön, obwohl doch in Tumaco eigentlich immer nur die ewig gleiche Salsa und SalsaChoque zu hören sind. Ja, und da stand er also und trug mir ganz vorsichtig, aber gewiss seinen Wunsch vor. Er habe in den ersten Wochen der Coronakrise ganz aufmerksam seine Umgebung beobachtet und in einem kleinen Notizblock jene Familien aufnotiert, die in extremer Not seien. Wo er sich unsicher war, habe er entsprechende Fragen gestellt oder um ein Glas Wasser gebeten, damit der Hausbesitzer den Kühlschrank öffnete und Jaiden einen Blick hineinwerfen konnte. War er zu gut bestückt, wurde der Name von der Liste gestrichen. So habe er 20 Namen zusammengestellt, ausschließlich alte Menschen oder alleinerziehende Mütter mit vielen kleinen Kindern. Die Kriterien seiner Auswahl hatte er also ganz klar. »Uli, ich möchte diesen Familien helfen. Mit Freunden aus der Uni habe ich bereits (umgerechnet) 50 Euro gesammelt. Ich möchte dich bitten, uns mit deinen Kontakten zu helfen, weitere Spenden zu erhalten.« Ich war sprachlos. Was vielleicht so naheliegend klingt, war so unglaublich außergewöhnlich, denn bei ihm selbst gibt es derzeit nicht jeden Tag drei Mahlzeiten, und wenn es so etwas wie Fügung gibt, dann war es die E-Mail einer alten Ordensschwester aus Bogotá, die mir ganz zufällig am nächsten Tag eine Spende für Lebensmittelhilfen anbot. Alles andere organisierte Jaiden. Er kümmerte sich um die Zusammenstellung der Hilfspakete, die Übergabe an die Leute, sogar den Transport per Boot für sechs Familien in einem abgelegenen Dorf, die so dankbar waren, dass sie alle zusammenlegten, um das Benzin für das Boot zu bezahlen. Und Jaiden strahlte und gestand mir, dass er vor Freude über die gelungene Hilfe fast geweint hätte. Es ist schwer, solche Momente in Worte zu fassen. Fest steht jedoch, dass in ihnen genau dieser Zauber zu spüren ist, der entsteht, wenn man sich mit den Menschen gemeinsam auf den Weg macht und dabei am Ende selbst beschenkt wird.
Publik-Forum EDITION
»Das Ende des billigen Wohlstands«
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