Es wird nie wieder so sein wie vorher
Die Erkenntnis nach der Zeitungslektüre traf mich wie ein Schlag: Es wird nie wieder so sein wie vorher.
Eigentlich banal. Natürlich wird das Leben in Zukunft nicht so sein wie das in der Vergangenheit. Leben ist immer Veränderung. Leben geht immer nur vorwärts. Einen Rückwärtsgang gibt es nicht. Und das ist auch gut so. Bisher war ich immer ganz einverstanden damit.
Aber jetzt war es wie ein Faustschlag ins Gesicht: Es ist nicht vorbei nach drei Wochen »Lockdown«. Bis Ostern war ich immer wieder von einer schwer zu greifenden Unzufriedenheit und Beklemmung befallen. Manchmal. An anderen Tagen wieder war ich inspiriert vom erwachenden Frühling. Den ich in diesem Jahr viel intensiver wahrgenommen habe als in anderen Jahren. Ich begrüßte jeden Vogel im Baum, jedes neue Blatt am Strauch, jede Blüte im Garten.
Aber immer habe ich gewartet: auf die angekündigte Ansage nach Ostern, ob es Lockerungen geben wird, ob die Schulen und Kitas wieder öffnen dürfen, ob das gesellschaftliche und mein berufliches Leben wieder weitergehen. Aber mehr und mehr drängte sich das Bewusstsein in den Vordergrund, nein, es wird nicht »einfach so« weitergehen, nach drei Wochen Stillstand und Zwangspause. Es bedarf Regelungen, die uns über Monate zu anderen Verhaltensweisen zwingen. Und nach dem »Lockdown« werden wir nicht einfach in unser altes Leben zurückschlüpfen und dort anknüpfen können, wo wir am 16. März aufgehört hatten.
Wie mag es Dornröschen nach ihrem hundertjährigen Schlaf ergangen sein, als sie plötzlich erwachte? Immerhin: Sie erwachte durch einen Kuss und die Liebe eines Prinzen, der sie fand und zu neuem Leben erweckte. Das Happy End im Märchen weist uns auf das erlösende neue Leben hin. Das haben die Christen auch in diesem Jahr an Ostern gefeiert.
Aber wie mag das im ersten Moment sein, nach hundert Jahren in ein neues, komplett anderes Leben hineinkatapultiert zu werden? Keiner der Menschen, die unserem Dornröschen vertraut waren, wird noch am Leben gewesen sein. Das Schloss überwuchert von Rosen und Dornen. Kein Zurechtfinden. Keine Orientierung. Und draußen? Alles anders. Neue Wege, neue Häuser, fremde Menschen.
Ganz so ist es in unserer neuen Welt, in unserem neuen Alltag nicht. Es ist alles so surreal: wie immer, so vertraut. Und doch ganz anders. Das Gestrüpp wächst eher in unseren Köpfen.
Auch wir brauchen Liebe und Vertrauen, uns in diesen neuen Alltag einzufinden. Jede und jeder auf seine Weise. Die einen haben einen vollkommen verdichteten Alltag durch Beruf und Familie, womöglich beides zu Hause, auf womöglich engstem Raum. Große Verantwortung. Mehr Arbeit denn je. Die anderen nichts zu tun, vielleicht ganz allein. Kontakt- und Besuchsverbot.
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Ich war plötzlich ohne Arbeit. Alle meine Termine wurden abgesagt. Zu anderen Zeiten wäre das herrlich gewesen. Jetzt war es irgendwie bedrückend. Was passiert jetzt mit all den Menschen, die bisher in den verschiedenen Einrichtungen, die ich begleite, betreut, behandelt, unterstützt wurden? Und was passiert mit mir, ohne Arbeit und ohne Einkommen? Seltsam, wie die Tage mir entglitten, ohne dass ich etwas Nennenswertes »geschafft« hätte. Aber schon da machte ich die Erfahrung: Es ist zwar viel weniger Kontakt möglich, aber auf andere Weise viel mehr Beziehung und Nähe. Lange Telefonate mit Freunden, mit der Mutter, mit den Kindern, fast täglicher Kontakt zu Nachbarn, natürlich auf Distanz. Nach drei Wochen selbst auferlegter quarantäneähnlicher Isolierung doch vorsichtige Treffen zu Ostern in der Familie, einzeln, draußen. Dann auch mit der einen oder anderen Freundin ein gemeinsamer Spaziergang, Kaffeetrinken im Garten mit viel Abstand.
Und dann kam nach Ostern die Gewissheit: Es wird noch lange nicht so sein wie zuvor. Nein, es kann ja auch gar nicht wieder so sein wie zuvor. Das Virus ist nicht wieder aus der Welt zu schaffen, und die Menschheit wird einen Umgang damit finden müssen.
Soll es denn wieder sein wie zuvor? War denn alles gut und in Ordnung vor der Krise? Mit der Euphorie in der zweiten Phase, neue Wege gehen zu können, trotzdem Arbeit zu haben, neue Formate auszuprobieren, in kurzer Zeit viel zu lernen und ganz neue Erfahrungen zu machen, erschien es mir immer weniger reizvoll, zum Alten zurückzukehren. Die erste Kugel Eis in diesem Sommer – ein Genuss ohne Gleichen. Ein lebendiger Kontakt mit einzelnen Menschen in meinem Arbeitsfeld – welch eine Freude. Aber daneben auch viel mehr Zeit als früher für mich selbst, gemeinsame Zeit mit meinem Mann, neue Routinen und ein deutlich entschleunigter Alltag. Ich muss kaum mehr tanken, das Auto steht die meiste Zeit unbenutzt im Hof. Die wenigen Wege, die es gibt, sind bequem mit dem Fahrrad zu bewältigen. Auch Zeit zum Kochen ist da, Zeit, um bewusst frische Lebensmittel, am besten unverpackt, einzukaufen. Zeit zu meditieren, Audio- oder Online-Gottesdienste zu hören, nachzudenken und zu schreiben.
Alexandra Pohlmann wird in Publik-Forum zitiert: »Viktor Frankl, der Begründer der Existenzanalyse, würde sagen: Wenn unsere äußere Freiheit eingeschränkt wird, sind wir aufgerufen, uns auf die Suche nach unserer inneren Freiheit zu machen. Welche Einstellung haben wir zu dem, was hier geschieht? Worin besteht jetzt hier der Sinn für mich? Was ist meine Antwort auf diese Situation?« (Publik-Forum, Heft 8/2020, S. 51)
Ich habe meine Antwort auf diese Situation noch nicht abschließend gefunden. Aber ich bin auf dem Weg. Ich habe mich aufgemacht, mit Hoffnung und mit Vertrauen, dass neues Leben aus der Rezession, aus dem »Lockdown«, aus Überlastung und aus Entschleunigung, vielleicht auch aus Verzicht und Reduktion wachsen wird. Vielleicht ist das die einmalige Chance, etwas Neues zu wagen – in meinem kleinen individuellen Leben, aber auch in der Gesellschaft. Vielleicht entsteht eine große Wertschätzung und Dankbarkeit für Dinge, die bis vor Kurzem noch selbstverständlich waren, und eine neue Bewusstheit. Eine Bewusstheit im Hinblick auf unser zwischenmenschliches Miteinander und eine Bewusstheit für die Verletzlichkeit dieser Erde.
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Dies ist ein Beitrag im Rahmen des Erzählprojektes von Publik-Forum »Die Liebe in Zeiten von Corona«. Wir laden unsere Leserinnen und Leser ein zu unserem Erzählprojekt: Bitte schreiben Sie uns Ihre Erfahrungen, Nöte, Ängste und Ihre Zuversicht in Zeiten von Corona.