Gedanken einer 89-Jährigen
Schon eine ganze Weile überlege ich, ob und wenn wie ich als 89-jährige Frau in einem Beitrag auf die Coronakrise reagieren soll.
Ich liebe Menschen: arme – reiche, alte – junge, einheimische – fremde, gesunde – kranke. Es gäbe noch viele andere Gegensätze wie bei allem: Viele dieser Gegensatzpaare werden auf wunderbare Weise beschrieben in Bildern – in der Musik – in Geschichten. Aus dieser Kunst und aus der Natur können wir lernen.
Ich bin alt, bei gutem Verstand, noch hält mein Körper mich aus, das wird irgendwann aufhören, und das ist einfach so. Solange ich kann, möchte ich leben, schon alleine um für die vielen Geschenke in meinem Leben dankbar zu sein. Zuerst für mein Leben, das Gott mir zunächst durch meine Eltern schenkte. Für meine Geschwister! Schon früh lernte ich bei meinem sieben Jahre älteren Bruder schwimmen und liebe es bis heute. Bei meinem Bruder, der nie aus dem Zweiten Weltkrieg zurückkam. Schwimmen – immer wieder ein Ufer suchen – Vertrauen, Hoffnung, Halt. Das habe ich im Leben oft gebraucht, und es hat mich stark gemacht. Stark und schwach, auch zwei solcher Gegensätze. Wir fühlen uns stark, nutzen unsere Natur, unseren Planeten aber dabei aus, verbrauchen alle verfügbaren Ressourcen und sind dann plötzlich schwach, wenn die kleinsten Viren stark werden. Ich selbst hoffe für unsere Kinder und Enkelkinder, dass sie den Kampf um das Leben gewinnen. Und doch spüre ich als alter Mensch, dass zum einzelnen Leben wie zur ganzen Menschheitsgeschichte auch die Vergänglichkeit gehört. Wenn wir nur unsere eigene körperliche Gesundheit sehen, werden wir verlieren. Dann machen wir so weiter wie bis jetzt, alles wird beim Alten bleiben. Nach dem Zweiten Weltkrieg, den ich als Kind miterlebt habe, haben wir ein bisschen gelernt. Setzen wir nicht das Gelernte aufs Spiel. 1945 ist die UNO gegründet worden, 1948 die WHO. Die Menschen sind eine große Gemeinschaft, und es geht um diese Gemeinschaft. Viele offene Fragen können wir nach und nach klären. Die Menschheit hält noch viel mehr aus als Kriege und Pandemien. Die heutige Vernetzung bietet den verschiedenen Wissenschaften, Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, große Möglichkeiten, die Probleme in Zusammenarbeit mit den verantwortungsvollen Entscheidungsträgern zu lösen. Dafür müssen wir uns aber gegenseitig immer wieder Hoffnung und damit Kraft geben: So wie mein Vater mir, als meine Großmutter drei Tage vor meinem Weißen Sonntag 1939 gestorben ist. Am Tag der Beerdigung setzte mein Vater mich ins Auto und fuhr mich nach Hause – weg von Trauer und Schmerz – hinein in die Vorfreude. Das ist mir geblieben.
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