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Krönung wessen Hauptes?

von Katharina Hinz, Sandhausen
vom 22.02.2021
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(Foto: Katharina Hinz)
(Foto: Katharina Hinz)

Das vergangene Jahr schickte man gern wegen eines winzigen, ausgesprochen hemmungslosen und fast un-scheinbaren Lebewesens in den Ruhestand, das dem Namen nach mit dem Selbstverständnis agiert, »corona« zu sein oder wenigstens »die Krone» aufzuhaben. Es scheint, als hätte unsere Gesellschaft weder Konventionen noch Gesetze noch Wertemechanismen gehabt, von denen wir uns leiten ließen und denen man eigentlich Priorität einräumte. Ich hatte mir nicht vorstellen können, wie fragil das gesellschaftliche Gefüge im Allgemeinen und im System Familie ist. Die Rücksichtslosigkeit eines nicht schuldfähigen Virus provozierte auch bei mir Empörung, Unglauben und die Frage nach meiner persönlichen Freiheit im Leben. Wenn ich ehrlich bin, fühlte ich mich mit meinen gelebten Werten unverstanden, persönlich angegriffen und in anmaßender Manier aus der Bahn geworfen. Irgendwie arbeitete auch mein Gehirn nach dem wahrscheinlich steinzeitlichen Muster, Gefahren schnell zu personalisieren und sich diese als bedrohliches, bewusst aggressives Gegenüber vorzustellen. Doch es handelt sich weder um eine Person noch um ein verantwortungsvolles Bewusstsein, sondern um einen kugelrunden Zellhaufen mit Zacken. Dabei hat es die mediale Aufbereitung in den Nachrichten leicht gemacht, dem Virus nicht nur einen charakteristischen Namen zu geben, sondern auch eine Anschauung, die noch dazu in seiner Gestalt wohlgelungen daherkam: je nach Kontrastmittel sehen die farbigen Kügelchen ausgesprochen hübsch aus, finde ich. Sollte da ein ästhetisches Dilemma vorliegen, bei der die Formgebung Sympathie evoziert, aber sein Inhalt mit einer unberechenbaren Bedrohung einhergeht? Wie war das mit dem Verhältnis von Inhalt und Form, soll die Gestaltung dem Inhalt gehorchen oder gibt es auch eine Form, die Inhalte generiert? Ich gebe zu, dass es sich bei diesen Spitzfindigkeiten um Gedankensplitter wie aus einem früheren Leben handelt. Dennoch driften sie zurück an die Oberfläche und können mir helfen, mit dem Unvertrauten umzugehen.

Für mich gehört der Begriff »Dilemma« zu den Formulierungen, mit denen ich das Geschehen halbwegs zu begreifen begann. Dabei überkamen mich zunächst viele unerwartete Emotionen, aber keine verstandesgeleiteten Begrifflichkeiten. Hilfe! Wie oft hätte ich einen gepflegten Cappuccino in einer Heidelberger Seitenstraße nebst einem einsamen Spaziergang wahrnehmen müssen, um all die Bilder, Erklärungen und Versionen der Deutung zu verarbeiten. Dabei sind Emotionen eigentlich so kostbar und deren Wahrnehmung so hilfreich, wenn sie nicht diffus bleiben. Natürlich gab es weder Spaziergänge noch die kleine Pause im geliebten Café, sondern: landauf, landab Homeschooling, Homeoffice, Homekindergardening. Dabei setzt das Leben einer Familie unter pandemischen Voraussetzungen ganz basale Prioritäten: immer wieder Essen machen. Das hieß, alternativlos zur Haushaltsmaschine zu mutieren. Zwei Ausdrücke lösen auch jetzt wieder regelrecht Panik bei mir aus: »Mama, Mama, wo bist du!« hundertmal täglich durch das Haus gerufen und »wo ist dies und das?«. Im Frühjahr konnten wir bei dem Jüngsten den Forschergeist mit dem Bauen alter Legoobjekte stillen, was durchaus zur Zufriedenheit gelang – bis auf die Tatsache, dass die entsprechenden Einzelteile aus ungeordneten Schachteln in wochenlanger Arbeit erst erkannt, zugeordnet und sortiert werden mussten. Eine Übung in Kategorienbildung, auf die ich wunderbar hätte verzichten können. Die Erfahrung, dass eines der Kinder bereits das Mittagessen braucht, bevor der letzte am Frühstückstisch saß, ist eine Herausforderung, die nicht von guter Struktur zeugt. In der Gemengelage meiner seelischen Innereien schien mir das alles zu viel verlangt: So dreist greift man nicht in den Alltag von Familien ein, bei denen täglich von jedem viel erwartet wird, aber die Voraussetzungen für die entsprechenden Leistungen gen null zusammenschnurzen. Ich werde erneut den Verdacht nicht los, dass Kinder und Familien im Ranking der Lobbyisten in den abgeschlagenen Reihen sitzen. Wenn nicht nur in dem vergangenen ostdeutschen Staat Kindergärten und Hortplätze eine Selbstverständlichkeit waren, sondern Kindereinrichtungen mittlerweile in allen Bundesländern gefördert werden, weil die Arbeit, die Frauen, Mütter, leisten, volkswirtschaftlich sinnvoll und notwendig ist, kann man nicht eben diese Einrichtungen schließen, Kinder die Aufgaben ohne Lehrerpräsenz erledigen lassen und die Arbeit der Mütter über »Homeoffice« abverlangen. Ohne täglichen Catering, ohne Wäscheservice und ohne Coaching, klar. Immerhin trägt eigentlich das zweite Gehalt dazu bei, überhaupt die exorbitanten Mieten bzw. Kredite und eine zusätzlich private Kinderbetreuung zu finanzieren. Es sind wiederum die Frauen, die zum Puffer zwischen den verschiedenen Interessenlagen werden. Die Abwägung der konkreten Folgen unterliegt kaum einer öffentlichen Debatte. Eine spezielle Variante, mit unseren anspruchsvollen Kindern klarzukommen, kannten wir bereits vor der Zeitrechnung Corona, nämlich die wahnsinnig faszinierenden Welten, die Kinder den Displays sämtlicher Fabrikate entlocken. Aber welche berufstätigen Eltern haben die Chance, konsequent zu kontrollieren (also vor dem Konsum Videos, Spiele, Accounts anzusehen und zu bewerten), zu strukturieren und Alternativen anzubieten, wenn hinter den digitalen Welten finanzkräftige Firmen sitzen, die nach professionell ermittelten Standards die Faszination der Kinder wecken und ihre Spielfreude nach allen Künsten der Erfolgsoptimierung belohnen? Wie soll das denn auf die bildverwöhnten kleinen Geiser wirken, wenn man als Alternative mit Würfel und Brettspiel ankommt? Wer kann überhaupt noch nachvollziehen, welche gigantischen Storys, Bilder und Gestalten die Kinder gesehen haben, und wenn auch nur als kurzen Werbespot, da diese nicht mehr anzuklicken sind? Wie sollten sie nicht mit den vielen Bildern, Emotionen und Ansprüchen allein bleiben? Welches Kind kann verbal nachvollziehbar beschreiben, was erst am Abend Ängste auslöst? Wie kann man mit Geduld auf die Kinder eingehen, ihre schlechte Laune aus Bewegungsmangel aushalten und ein superspannendes Programm anbieten, wenn Besprechungstermine drängen, die Wäsche viel zu lange in der Waschmaschine bleibt und die mittlere Altersstufe beim Anblick des Kühlschrankinhalts immer nur mault? Insgesamt gibt es natürlich mehr Emotionen als nur Geduld, Wut, Enttäuschung, Verzweiflung und Missgunst, aber bestimmt keine kreativen Ideen von der Qualität digitaler Spielfreude bei minimalem Aufwand. Da war das aufwendige Sortieren von Legosteinen noch das geringste Übel. Zu allem Überfluss besteht keine vernünftige! Möglichkeit, seinem Ärger Luft zu verschaffen oder bei der Notrufnummer einer politischen Instanz Einspruch zu erheben, deren Präsenz in den Medien zumindest eine Mitverantwortung zu suggerieren scheint. (Unvernünftige Möglichkeiten führen gleichzeitig ein ausschweifendes Eigenleben.) Ich weiß nur zu gut, wie sich Wut äußert, allerdings nicht allein im Wald und nicht am Boxsack, weil man, resp. Frau, dazu bewusst organisierte Zeit gebraucht hätte. Eine beunruhigende Beobachtung musste ich bei mir selbst erkennen: Im Familiensystem gibt es keine Sicherungseinrichtungen, die Energiekreise bei Überspannung vorsichtshalber abschalten. Im System Familie gibt es Schwachstellen, die als Sicherung wirken, und das ist bei denjenigen, die es am wenigsten verdient haben: ohne fette Isolierung, ohne dicke Haut und abweisendes Fell. Und die Fachkräfte, Ärzte, die das alles professionell erklären könnten, denen man die Dilemmata auf den Schreibtisch legen möchte, die haben bereits zu viel verstanden. Der Druck bricht sich dann immer wieder Bahn, und man kann an sich selbst beobachten, wie schnell eine Schuldfrage auftaucht. Ich komme mir so vor, als stünde seit einem Jahr auf meiner Stirn geschrieben: »Warum sind Eltern nicht systemrelevant?« Warum bleiben Familien auf den Dilemmata sitzen? Warum tut niemand etwas dagegen? Dabei geht es vielfach gut bis supergut, um der Kinder und ihrer Zukunft wegen, und zwar ohne Anerkennung und ohne professionelle Belohnung. Wahrscheinlich gehört zum Dilemma dazu, dass diejenigen, die jetzt diszipliniert, vernünftig und kompromissbereit durch die Krise gehen, die Homeschooling bewältigen und ihren Tag strukturieren können, in absehbarer Zeit diejenigen sind, die die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen ausbügeln müssen.

Nur – wer oder was ist der Schuft! Das ist schon eine prekäre Situation, bei der die Ursachenforschung vernünftigerweise keine Schuldfrage stellen darf, Kausalketten auf unberechenbare Zufälle zurückgeführt werden und niemand mit Gesetzesparagrafen drohen und in diplomatische Verhandlungen eintreten kann! Da bleibt viel offen, notgedrungener Weise. Der Lernprozess, dass nicht alles, was nicht lückenlos erklärbar erscheint, gleichwohl mit böser Absicht zusammenhängt, stellt eine echte Herausforderung dar. Wie schnell gibt das Gehirn einem Problem ein Gesicht, noch bevor man bewusst entscheidet, dass das Problem nicht menschengemacht ist. Gleichzeitig könnte man manchen Argumentationen entnehmen, dass es sich um die einzige und die erste Krise überhaupt handeln würde. Für die jüngere Generation ist es allerdings die erste Erfahrung mit einer gesellschaftlichen Ausnahmesituation. Die älteren Jahrgänge kämpfen mit ganz anderen Vergleichen, die jede Katastrophenmeldung zu relativieren vermag. Immerhin funktioniert die Versorgung mit den Grundnahrungsmitteln, was nicht gering geschätzt werden sollte. Bei der Generation meiner Eltern erlebe ich eine gewisse Hemmung, die Lage zu problematisieren, weil eigentlich nichts dem Vergleich mit ihren Kriegs- und Fluchterfahrungen standhalten könne und jedes Gejammer mit der Erwähnung alter Geschichten weggewischt wird. Gleichzeitig sind sie es, die nicht unbedingt vernünftig und vorsichtig sind, möglicherweise aus einem eigentlich gesunden Selbstschutz heraus, gerade weil ihr Weltbild so fragil ist. Bei diesen Erwägungen kommen sie wieder, die Emotionen, die mich unmittelbarer ansprechen als der Geist und die Seele und die Vernunft.

Eine Tatsache nehme ich dem Konglomerat an Dilemmata besonders übel: dass die Zeit derart unbeirrt weitertickt, als sei die Gesellschaft nicht ihrer Struktur beraubt worden. Das Verhältnis von Voraussetzung und Erwartung passt nicht mehr, und ich hätte mir als Ausgleich gewünscht, nach getaner Familienarbeit ein paar Stunden und ein paar Gehirnwindungen und ein paar Energiequanten zusätzlich zu bekommen, um aufrecht zu erhalten, was mein Leben neben Familienarbeit ausmacht. Zum Trost: Ich glaube, ich war und ich bin in guter Gesellschaft. Und dennoch hat dieser gefräßige, zunächst unberechenbare Virus einige Fragen an mich und unsere Gesellschaft gestellt, die auch bei mir eine intensive Beschäftigung über die Grundfesten des Lebens auslösten. Fragen, für die ich keine Antwort erwarte – zum Beispiel, weshalb die zwischenmenschliche Kommunikation in Form von Gestik, Mimik und der Berührung so sehr problematisiert wurde, obwohl sie in der Menschheitsentwicklung mindestens so stark verankert ist wie Sprache? Dass die Konvention, sich als Zeichen des Vertrauens die offene Hand zu reichen, damit das Gegenüber sehen kann, dass sie keine Waffe führt, nur für sichtbare Gefahren gilt – während sich die Viren auf gemeine Weise der Sichtbarkeit entziehen, sie also Vertrauen untergraben? Weshalb die Kinderspielplätze im Frühjahr konsequent geschlossen, abgeriegelt wurden, nach dem in jahrelanger Forschung die Bedeutung von Bewegung für die Entwicklung der Kinder und die Mobilität ihres Geistes herausgestellt wurde? Oder weshalb ausgerechnet die nicht kommerziellen Werte minimiert werden mussten, während die global aufgestellten Märkte, die Discounter mit ihrem Preisdumping noch mehr expandieren können? Musik in Konzerten, die darstellenden Künste im Theater, Ausstellungen, Gottesdienste, Wanderungen oder das Gespräch im Café sollen wirklich für das Leben an sich gefährlicher sein als die Beschränkung des Lebensfeldes auf den Raum der Familie oder die blanke Einsamkeit? Weshalb gemeinsames Speisen, das den Körper, die Seele und den Geist stärkt, das Vertrauen weckt, Gemeinschaft stiftet und erfolgreich zu den konstitutiven Formen vieler Religionen zählt, plötzlich kriminalisiert wird? Wer soll das aller Erfahrung nach glauben? Mehr noch – das Virus speist fröhlich mit, und nicht nur das eine gekrönte.

Oder dass die kulturelle Wertschöpfung, die dem Leben Qualität gibt und über das Zuviel und Zuwenig an Gemeinsamkeiten, Gedankenaustausch und geistig-geistlichen Hunger hinweghilft, einer Fastenkur unterzogen werden muss, während die Märkte, die Konsumgüter über das Internet transferieren, super profitabel sind – mit und ohne adäquate Besteuerung? Dass in den Medien beschwichtigend von »Besorgnis« um die Soloselbstständigkeit oder das kleine Geschäft gesprochen wird, während bei Künstlern aus Not neue Abhängigkeiten entstehen und die kleinen Läden das Schild »Geschlossen wegen Geschäftsaufgabe« raushängen müssen? Oder konkret für meine Person – weshalb sich die Hausfrau auf ihre traditionellen Aufgaben verpflichtet sehen muss, ungefragt ob aller Konsequenzen und ungeachtet einer notwendigen finanziellen Grundlage, als ob der Herrgott allen Kulturschaffenden und allen, die ihre Kinder betreuen, täglich Manna vom Himmel fallen ließe? Sollte das Virus etwa bestechlich sein? Und mit was? Nein: die Ursache all diesen Ungemachs hat keine Folgenabschätzung vorgenommen – es folgt nur den banalen Gesetzmäßigkeiten von Kleinstlebewesen und schert sich weder um einen Gewissenskonflikt noch um das Überleben kultureller Errungenschaften. Es ist einfach da, wie viele Viren vor ihm und mittlerweile nach ihm. Das ist unendlich hart und das muss in aller Härte zum Ausdruck gebracht werden dürfen. Dilemmata muss man konkret benennen, Probleme verbalisieren und Ambivalenzen aushalten lernen. Die Zeit für diese Prozesse müssen wir uns alle nehmen. Aber auch Erfolge sollten kommuniziert werden, und für sie darf man sich auf die Schulter klopfen – allerdings nur innerhalb der Schultern, die in einem Haushalt den Schulterschluss üben. Aber wie? Mit Humor vielleicht? Vielleicht! Das kann man einüben, wirklich! So manches erinnert mich an ferne Erfahrungen aus meiner Zeit in der DDR, beispielsweise an innere Leere und Langeweile, wie ausgestorben wirkende Städte und der mehrdeutige, fatalistische Witz. Man kann ohne Schadenfreude Humor pflegen, und der tut gut.

Im Frühling tat sich ein komischer Zwiespalt auf; Zeichen der Hoffnung, während die Probleme der Corona-Krise im März immer bedrückender wurden: jenseits der Wohnungen erwachte die Natur zum Leben, begann zu grünen und zu blühen und mochte beweisen, wer im Lauf der Zeit die »Krone« aufhat. Die Wahrnehmung des Frühlings trotz der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und persönlichen Krisen konnte das Herz weiten und viel Neues an Ideen, Möglichkeiten und Kommunikationsformen gedeihen lassen. Zeit und Raum konnten – jedenfalls partiell – in neue Formen gegossen und andere Qualitäten erobert werden. Allerdings nur, sofern man Lebensräume zur Verfügung hatte, die nicht zum Käfig wurden. Aber vor allem – ohne die mediale Vernetzung, die digitale Parallelwelt, wäre es viel, viel einsamer geworden. Ein Erfolgsmodell – soweit die digitalen Errungenschaften den technischen Möglichkeiten nicht heillos unterlegen waren. Musik, bildende Kunst, Andacht und Kommunikation im Digitalformat. Aber vor allem Bilder, die Stimmungen zum Ausdruck brachten, Farbklänge und Lebenswelten, die Hoffnung und qualitätvollen Lebenswillen zu vermitteln mochten. Dass kleine Fotos und kurze Nachrichten Türen im bedrängten Innenleben öffnen und Licht einströmen ließen, verstand ich als große Bereicherung. Nur das sich mein Gehirn erst an die Verarbeitung von zweidimensionalem Display bei dreidimensionaler Wirkung gewöhnen musste – nun, auch ich war super motiviert und schließlich erfolgreich. Ich wundere mich selbst über mich, dass ich dankbar auf die Mechanismen rechnergestützter Vernetzung blicke, die eigentlich ein sehr übergriffiges Eigenleben führen und sich jedweder demokratisch legitimierter Abwägungsprozesse entziehen. Auch dieser Mechanismus folgt einem bewährten System, das viele Metaphern kennt: die sprichwörtlichen zwei Seiten einer Medaille, bei denen man nicht zwischen »richtig« und »falsch« unterscheiden kann. Stellt man sich die professionell und finanzkräftig gestützte digital Welt als lebendiges System vor, das von der Nahrung des Marktes lebt – dem Finanzwert, ohne dass das schnöde Geld Nährstoffe im eigentlichen Sinn enthält, wirkt es wie ein Wunder. Dennoch funktioniert das System und lebt erfolgreich fort, aber befremdlich verschweigend, auf welchen Grundlagen es funktioniert. Interessanterweise sind das Formulierungen eines Unbehagens, das nur unsere älteren Jahrgänge formulieren können und die die »digital natives« einfach kalt lassen. Wobei sich gleich die nächste Frage für unsere Generation anschließt: Können geistige Nahrungsmittel mittels digitaler Ströme geleitet werden oder setzen sie vielmehr das Begreifen mit all unseren Sinnen voraus, die nicht über das Medium von programmierten Rechnern hervorgerufen werden können? Brauchen wir Menschen eigentlich den unmittelbaren Eindruck von dreidimensionalem Anblick statt zweidimensionaler Displays? Brauchen wir die haptischen Eindrücke von Material, Konsistenz und Gewicht, um das Handeln zu steuern, die Nebengeräusche des Raumes und der Umgebung, um uns verorten zu können, das Gefühl von Kälte und Wärme, Zugluft, Geschmack und Geruch, um verstehen, bewerten und kommunizieren zu können? Ist es das, was fehlt, und die Videokonferenzen bei all ihren Vorteilen so ermüdend macht, weil sie unsere Wahrnehmung auf ein unerträgliches Minimum reduziert? Vielleicht. Vielleicht ist aber auch der unvorhergesehene Sturm, den ein unscheinbarer Virus in den berechenbaren Lauf der Zeit gebracht hat, quasi die Legitimation für einen potenziellen »Siebenten Sinn«, weil Kommunikation eben doch zweidimensional funktioniert, auch wenn sie unbefriedigend ist? Also, um im Bild zu bleiben – als würde das Sehen mit einem Auge unter dem Verlust einer Dimension bereits die Wahrnehmung von räumlicher Vorstellung und zeitlichen Prozessen abbilden können; würde sonst ein Auge mehr als ein Schattentheater wahrnehmen können? Doch auch das Schattentheater ist mehr als Kulisse, da das Verstehen ja nicht nur mit ein oder zwei Augen, sondern dem Gehirn gelingt. Also geht es auch bei der Digitalisierung um mehr, als ein erster Eindruck evoziert. Kurz gesagt, erlaube ich mir nach dem vergangenen Jahr zu formulieren: Geistige Nahrung kann, muss aber nicht viel mehr sein als Brot, Wasser, Wein und Kommunikation unter Präsenzbedingungen.

Interessanterweise bin ich in diesem Jahr nicht nur medial, sondern auch in meinen geistigen Fähigkeiten mutiger geworden. Vielleicht, weil das Denken weder von kleinen frechen Viren noch von einem unbefriedigenden Zeitmanagement angefressen werden kann. Die unberechenbaren Lebensmechanismen eines kleinen Zellhaufens haben an den Grundfesten gewohnter Lebensverhältnisse, vertrauter Deutungsmechanismen und nachprüfbarer Kausalketten gerüttelt. Das kann man getrost zum Anlass nehmen, auch andere, davon scheinbar unabhängige Bezüge von Ursache und Wirkung zu hinterfragen. Ich habe, im Grunde nebenbei, wesentliche Teile meines Selbstverständnisses und meines Lebensweges einer distanzierteren Bewertung unterzogen, ohne dass dies zu den Vorsätzen für 2020 gehört hatte. Im Nachhinein kann ich sagen – diese kleine Entfesselung der Gedanken hat mich sehr bereichert, hat mich freier und unbeschwerter gemacht. Sie hat Dimensionen eröffnet, als ob jemand von außen die Läden zurückgeschlagen hätte, sodass beim Öffnen der Fenster Licht und frische Luft einströmen kann. Viel mehr als bisher musste ich überlegen, was im Haushalt meiner seelischen, geistigen und erfahrungsmäßigen Innereien steckt und mich von dem trennen, was zu den projizierten Mustern der Außenperspektive gehörte. Auch das weckt Hoffnungen, die mir sonst fremd geblieben wären.

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Weniger hoffnungsvoll sehe ich auf die Aufarbeitung der Kollateralschäden vor allem bei Kindern und Jugendlichen, die die Pandemie zwangsläufig hinterlässt. Bei dem, was ich nebenbei erlebe, rechne ich mit schlimmen Folgen, da sich das Familienleben unter scheinbar perfekten gesellschaftlichen Verhältnissen weitgehend im Verborgenen abspielt. Das ohnehin sehr fragmentierte Wissen bei einem relativ geringen Erfahrungsschatz, mit dem die jungen Menschen derzeit umgehen müssen, bedürfte erst recht eines intensiven Austauschs unter Gleichaltrigen. Dass gerade dieser eingeschränkt bzw. unterbunden werden muss, tut mir ausgesprochen leid. Was die Wut in diesen Seelen und mit diesen Herzen bewirkt, bleibt ebenfalls verborgen, noch. Noch! Glücklicherweise hat das Virus mit seiner großflächigen Verbreitung damit gewartet, bis die meisten Jugendlichen ihr Leben mit einem Smartphone teilen können, dass sie erklärtermaßen von ihrem Ärger ablenkt. Dennoch scheint mir als Mutter, dass es mehr als ein Dilemma ist, nicht auch Pädagogen, Ärzte und Angestellte in den ganz normalen, unscheinbaren Berufen, die die Gesellschaft am Leben erhalten, der ersten Impfkategorie zuzuschreiben – oder sogar die jüngere Generation, die mit den Folgen der Pandemie und anderer Krisen umgehen muss. Ganz ohne volkswirtschaftliche Erwägungen werden Krisen ja längerfristig nicht zu bewältigen sein.

Um des Spektrums der Wahrnehmung willen finde ich es spannend zu beobachten, wie einzelne Personen, aber vor allem Familien, konkret mit den veränderten Bedingungen umgehen. Dabei schien es kein erprobtes Raster zu geben, wer von den Umständen profitiert, wer an ihnen scheitert – und wie die Gemengelage zwischen den Extremen mit der Situation klarkommt. Es scheint Familien zu geben, die eine so starke Struktur und Passgenauigkeit haben, dass sich ihre Mitglieder viel besser entfalten können als bisher und die jetzt weniger an gesetzte Normen anecken müssen. Familien mit irgendwie hypersensiblen Kindern, die sehr gut ohne unverstandene Konflikte im Klassenverbund weiterkommen, und Jugendliche, die mit ihrem meist unangepassten Biorhythmus den Anforderungen besser standhalten als unter dem Druck statischer Zeitpläne. Bilder von Müttern und Vätern, denen es guttut, mit Fahrrad und Picknickkorb in den Wald zu fahren und die endlich mal entspannt wirken. Nur ist es bereits unter »Normalbedingung« schon schwer, den so verschiedenen Menschentypen ein super Umfeld zur optimalen Entfaltung zu bieten. Aber diejenigen, die von den Alltagsstrukturen bisher weniger profitierten, befinden sich diesmal eher auf der Sonnenseite. Wenigstens wurde der Blick auf eine Vielfalt geschärft, die mehr zeigt als erfolgsorientierte, scheinbar glasklare Strukturen im Bildungssystem. Und die pädagogischen Fähigkeiten von Eltern scheinen trotz aller Probleme stärker zu sein, als bisher angenommen, sonst hätte ja niemand auf den traditionellen Frontalunterricht verzichtet – oder? Die Erfahrung, dem Schulsystem notgedrungenermaßen einen Schubs zu mehr Freiheit und Vielfalt zu gewähren, sollte es allemal wert gewesen sein.

Hoffnung evoziert der Beginn eines neuen Jahres durch den medial aufgewerteten, quasi heiliggesprochenen Impfstoff, als ob man mit ihm auch unseren desgleichen bedrohten Planeten gegen alle Unbilden immunspritzen könnte. Der Virus, erscheint mir manchmal, sollte uns vielmehr als Vergrößerungsglas dienen, unsere Gewohnheiten, Konventionen und Glaubenssätze sehr kritisch zu hinterfragen, und zwar nicht nur in Bezug auf Familie, Bildungssystem und persönliche Emotionen. Weshalb lösen die zauberhaften biochemischen Entwicklungen nur eine bedingte Hoffnung bei mir aus? Vielleicht, weil das Serum nur einer von mehreren pandemischen Krisen etwas entgegenzusetzen hat, während der globalen Klimaerhitzung keineswegs mit einer Immunisierung gegen unverträgliche Wirtschaftspolitik beizukommen ist? Wer eigentlich versteht sich als »Krone«, sogar als »Krone der Schöpfung«? Ein Virus, seinem Namen nach oder ein vernunftbegabtes menschliches Wesen, das Verantwortung zu tragen imstande ist? Mit welchem Bewusstseinshorizont agiert eigentlich der, der die Krone auf erhobenem Haupte trägt und dessen Handeln in einer globalen Kausalkette steht? Was wird gehegt und gepflegt – der Goldglanz des schönen Scheins oder die weltweiten Kreisläufe der Natur? Inwiefern geht es wirklich um menschliches Leben, das ein Wunder bleibt und immer neu als Geschenk verstanden werden darf; geht es »nur« um die derzeit entscheidungstragende Generation, das Wahlvolk, oder perspektivisch um Kinder und Enkel? Muss ich mich des Eindrucks erwehren, einem eitlen Konkurrenzspiel um die Macht der Krone, d.h. deren Bekämpfung als Virus versus Behauptung der Lebensform der Menschen auf Kosten anderer Lebewesen, beiwohnen zu müssen – oder sollte der Schein trügen? Werden denn die Abwehrkräfte des Globus, die Schutzschicht der Vegetation als Lebensraum, die Atmosphäre, in dem Maße gestärkt wie die Immunisierung der finanzstarken Bevölkerungsgruppen, die in ihr hausen? Wie belastbar sind die demokratisch legitimierten Systeme, denen ich sehr viel Vertrauen schenke und um die ich vor dreißig Jahren wirklich gerungen habe, wenn der Faktor Zeit so stark an Bedeutung gewonnen hat, wie es bei virologischen Vorgängen der Fall ist, und die Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse der Problemlösung meilenweit hinterherhinken?

In diesen Monaten begleitet mich ein kunsthistorisches Motiv, das mir seit meinem Studium wichtig ist, und zwar das des Totentanzes. Ein Beispiel befindet sich in der Marienkirche in Berlin Mitte. Dabei führen Skelette mit Sensen bewaffnet Menschen aller Stände in das Reich des Todes, Geistliche wie auch Bürger, Könige wie Bauern, Männer wie Frauen, Alte und Kinder. Genauso unterschiedslos, wie auch das Virus durch alle Schichten der Bevölkerung streift, sich unter Politikern, Arbeitern und Senioren, Ärzten und Familienmitgliedern ausbreitet und sich weder an Ländergrenzen noch Kontinenten orientiert. Absolut gnadenlos sind jede Person und jede Familie potenziell betroffen. Es verschont weder diejenigen, die einen vorbildlichen Lebenswandel führen, noch siebt es die aus, die auf der Schattenseite stehen. Diese Form von Gleichmacherei ist für diese Gesellschaft ehrlich gesagt kaum üblich. Und dennoch gibt es Differenzen zwischen denen, die unter sozial engen und räumlich unkomfortablen Bedingungen dem Virus ausgeliefert sind, und jenen mit Platz in Haus und Garten. Aber was bedeutet das Motiv Totentanz global betrachtet? Dieser Perspektivwechsel mag zu den ganz großen Herausforderungen dieser Tage gehören, und man darf zugestehen, dass er Ängste auslöst. Historische pandemische Ereignisse wie die Pestwellen des Mittelalters oder Kriege mit Seuchen und Krankheiten haben Spuren hinterlassen, die nicht nur für Historiker*Innen bis heute nachvollziehbar sind. Und sie haben das persönliche und gesellschaftliche Bewusstsein nachhaltig verändert. Während die wirtschaftlichen Nöte der Touristikbranche noch eine erdumfassende Perspektive im Blick haben, lösen die Verteilungskämpfe der Impfdosen unter Mangelbedingungen eine unvorstellbare Engführung aus. Es scheint mir wiederum, als ob – bildlich gesprochen – diejenigen, die ohnehin an Mangel gewöhnt sind, gleich noch ein paar mehr Sensen schultern müssen, um die Privilegierten zu entlasten.

Etwas mehr im Netz unterwegs als bisher geben mir ausgerechnet die »Zeichen des Trotzes« Hoffnung: »trotz – wegen – und mit Corona«. Das Leben ist lebendig geblieben und sollte auch den problematischen Konventionen trotzen, die es sich in uns Menschen zu behaglich gemacht haben. Konventionen verschiedenster Art, Rituale, wird es immer geben, denn sie verleihen jedem Menschen Sicherheit und jeder Religion Beständigkeit. Aber es gibt Menschen, die offenbar meinen, sie hätten ein privilegiertes Recht auf Sicherheit, politisches Vertrauen und Meinungskonformität, und die weder Fragen noch offene Antworten lebendig finden, freundlich ausgedrückt… Aber dem Zuviel an Gleichgültigkeit kann man Fragen und Gedanken und Kultur und das Leben in allen erdenklichen Formen entgegensetzen, mit Neugierde und Freude. Es gibt leider so viele Menschen, denen Vielfalt, Ideenreichtum, Kreativität und super Stimmung Angst machen, regelrecht Schmerzen bereiten oder bei denen ganz schnell das Gewissen parat steht, wobei nicht einmal klar ist, wie viel Vertrauen man der Instanz »Gewissen« überhaupt entgegenbringen darf. Besonders bedauerlich sind diese Hemmungen, wenn sie die jüngere Generation betreffen, die das Leben nicht nur theoretisch kennenlernen will. Schade, traurig für diejenigen, denen das geschieht. Nur hat es leider nichts mit der Lebenswelt der anderen und der Jugend zu tun, sondern mit den anderen Welten in ihnen selbst. Doch wenn die eigene, innere Welt zur Lebenswelt Globus erklärt wird, hat der Ärger nicht nur mit der kleinen inneren Welt zu tun, sondern bricht sich unverhältnismäßig Bahn. Und wenn das Leben auf manch selbsternanntem Globus von der Kraft der Konventionen abhängen soll, hat das Erfolgsprinzip »Leben« ein Problem, und unser Lebensraum Globus bekanntermaßen auch. Akzeptanz von Veränderung, Lebendigkeit und Andersartigkeit ist nicht selbstverständlich, aber kostbar. Das lehrt uns nicht nur das Diskussionsspektrum um die Bearbeitung der Pandemie, des Rassismus oder die Klimakrise. Das Bedürfnis nach Sicherheit durch Konvention bremst vieles aus. Doch was tun? Zu den probaten Gegenmitteln gehören seit alters her die Sparten der Künste, die es derzeit sehr schwer haben und die gleichzeitig unvorstellbar kreativ sind. Der liebevolle Trotz in gestalteter Form bleibt ausgerechnet einer der konventionellsten Aufgaben von Kunst. Und mit ihr wird das Leben trotz, mit und wegen Corona lebendig bleiben.

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Alle Beiträge des Erzählprojektes »Die Liebe in Zeiten von Corona«

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