Leben ist Begegnung
Mittwoch, 23. März, ich gehe früh zum Markt, in der Hoffnung, dass die Schlangen nicht so lang sind. Die Idee hatten auch viele andere. Die Wartenden am Gemüsestand stehen meist im Schatten, doch ich habe Glück, neben meiner Markierung für die 1,50 m kommt die Sonne durch. Ich schaue, ob ich Bekannte sehe, keine da. Hinter mir steht eine Frau mit verschränkten Armen, ich spreche sie an, »Es ist noch recht kühl heute früh. Aber wenn Sie einen Meter nach links treten, stehen Sie in der Sonne«. »Oh«, sagt sie und geht zur Seite. »Und was mache ich jetzt«, fragt sie, »Vielleicht eine Yogaübung oder meditieren?« Ich zucke die Schulter und erzähle ihr, dass ich gerade ein Gedicht auswendig lerne. »Ein Gedicht«, fragt sie interessiert. »Wollen Sie es hören?«. »Ja, gerne«.
»Heimkehr« von Heinrich Heine
Herz, mein Herz, sei nicht beklommen,
Und ertrage dein Geschick,
Neuer Frühling gibt zurück,
Was der Winter dir genommen.
Und wie viel ist dir geblieben!
Und wie schön ist noch die Welt!
Und, mein Herz, was dir gefällt,
Alles, alles darfst du lieben!
Unsere Blicke treffen sich, sie hat Tränen in den Augen. Sie liebe Heine, sagt sie, zu Hause stehen die gesammelten Werke von ihm, aber das kenne sie noch nicht, wie war der Anfang, fragt sie. »Herz, mein Herz, sei nicht beklommen«, wiederholt sie. Wir rücken weiter in der Schlange auf. Am Stand angekommen, kann sie die erste Strophe.
Wir kaufen Gemüse und verabschieden uns mit einem Lächeln. Auf dem Heimweg fällt mir der Satz von Martin Buber ein »Alles wirkliche Leben ist Begegnung«
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Dies ist ein Beitrag im Rahmen des Erzählprojektes von Publik-Forum »Die Liebe in Zeiten von Corona«. Wir laden unsere Leserinnen und Leser ein zu unserem Erzählprojekt: Bitte schreiben Sie uns Ihre Erfahrungen, Nöte, Ängste und Ihre Zuversicht in Zeiten von Corona.