Meine Welt hat ihre Ordnung verloren
Wer hätte das gedacht. Ich gehe aus dem Haus, und mich beschleicht das Gefühl der Vorsicht. Die Bedrohung ist da, aber der Feind schießt nicht. Ihn begleiten auch kein hörbares Gewehrfeuergrollen, keine krachenden und durch das Feuer weithin sichtbaren Bombeneinschläge. Auge und Ohr können nicht warnen, können nicht sagen, wo man sich fernhalten sollte und wie weit entfernt die Gefahr ist. Dieser neue Feind hält sich auch nicht an Landesgrenzen. Er reicht mit seinem langen Arm leicht und weit über alle Grenzen hinaus und in alle Länder hinein, auch wenn ein Land nach dem anderen die Grenzen schließt, als ob man sie damit betonen könnte, dick unterstreichen, als ob der Virus sich davon beeindrucken ließe und vielleicht doch noch davor haltmachen würde. Aber er macht nicht halt, er fordert seine Opfer. In meiner bisherigen Welt gehörten Massengräber in den Irak und auf den Balkan, nicht aber nach New York; und Ausgangsbeschränkungen nach Afghanistan, nicht aber nach Europa; und Mundschutz trugen nur die Asiaten. In Deutschland zu sein bedeutete, die Gefahren und die Bedrohung für Leib und Leben hinter sich zu lassen. Meine Welt hat ihre Ordnung verloren. Immerhin, so taucht der Gedanke in meinem Kopf auf, sind wir auf diese Art ein bisschen gleicher als vorher. Ich erkenne es auch daran, dass Freunde aus dem Irak anrufen und sich besorgt erkundigen, wie es mir denn ginge. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, mit ihnen wirklich auf Augenhöhe zu sein.
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