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Sie kennt den Schmerz dieser Zeit

von Martina Gehlhaar
vom 06.08.2020
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Ausschnitt von »Die Amseln«. Gemalt von Martina Gehlhaar (Foto: Gehlhaar)
Ausschnitt von »Die Amseln«. Gemalt von Martina Gehlhaar (Foto: Gehlhaar)
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Die Amsel

Vor mir auf dem großen Tisch im Gewächshaus befinden sich Aquarellfarben, Papier, verschiedene Pinsel, ein Marmeladenglas, gefüllt mit Wasser. Es ist früh am Morgen an einem Tag im Mai. Ich male drauflos – schreiende Farben, spitze Pfeile, schwarze Balken, so ist mir heute zumute. Was soll das bloß werden hier auf dem Papier? Schließlich lande ich doch wieder beim Kreis. Lauter Kleckse, rot, pink, orange, kreisförmig verteilt in der Mitte des Bildes. Was ist das? Ist das etwa eins von diesen scheußlichen Corona-Viren? Überall in den Zeitungen sind sie abgebildet oder flimmern über den Bildschirm, oft überdimensional groß, nicht zu übersehen. Ich male noch hässliches, stumpfes Gelb dazu, gefährlich soll es aussehen, so gefährlich wie es ist. Wenn schon, denn schon. Aus lauter Verzweiflung – oder was ist es? Ohnmacht? Wut? Trauer? Angst? – male ich eine Theaterkulisse drumherum. Dunkelblauer Stoff fällt von oben und zu beiden Seiten herab, in großem Faltenwurf, angedeutet durch senkrechte schwarze Linien – der Rahmen für die allabendlichen Nachrichten, die Zahlen der Neuinfizierten, die Zahlen der Toten, die erschreckenden Zahlen aus Italien, Spanien, den USA. Ich setze mit dem Pinsel noch ein paar schwarze Tupfer in den Kreis, sie sollen erinnern an die Toten auf der ganzen Welt, auch in den vielen armen Ländern, die nicht erwähnt werden. Mein Gott, was ist das für eine Zeit? Sie schreit zum Himmel. Kyrie eleison!

Mir gefällt das Bild nicht. So, wie mir diese Corona-Pandemie nicht gefällt – wem gefällt sie schon? –, auch wenn wir es noch vergleichsweise gut haben, hier in unserer Klausur an der Ostsee, hinter den dicken Hecken.

Ich bringe noch einmal viel Schwarz ins Bild, an den beiden Seiten. Mit dunklem Blau male ich eine große Spirale quer durch die Mitte hindurch. Und noch einen Halbkreis mit kräftigem Rot über die obere Hälfte. Der Corona-Kreis ist durchbrochen, das Bild noch verworrener als vorher. Habe ich es jetzt endgültig zerstört? Sollte ich es gleich zerreißen, wegschmeißen? Aber was ist das? Plötzlich treten mir zu meinem Erstaunen aus den schwarzen Klecksen die Umrisse von Vögeln entgegen, ja genau, bei näherem Hinsehen entdecke ich Amseln, nicht nur eine, viele, der gelbe Schnabel ist bei einigen deutlich zu erkennen, ebenso die Flügel, ausgebreitet zum Abflug oder beim Landen auf der Erde. Ich erinnere mich an den Gesang einer einzelnen Amsel gestern während unseres Mittagessens draußen unter dem Sonnenschirm. Unermüdlich trällerte sie ihre Melodie, immer wieder von Neuem. Wir lauschten hingebungsvoll. Es war ein festliches Mahl.

Ich sehe das Bild neu. Ja, das ist es: ein Amselkonzert. Da ist nicht nur eine Amsel, ein Amselchor ist zu sehen, ja zu hören in einem mit sommerlichen Farben gesprenkelten Garten. Ich übermale die blöde blau-schwarze Theaterkulisse zu beiden Seiten – sie passt nun wirklich nicht mehr – mit viel Grün, gemischt mit etwas Weiß. Angedeutete Vegetation. Kein Blattwerk, das kann vielleicht später noch dazukommen. Bloß nicht zu realistisch. Das Grün genügt. Das dunkle Blau, das übriggeblieben ist in der oberen Hälfte erscheint plötzlich als Nachthimmel, oder besser als Abendhimmel. Ein kräftiges Abendrot leuchtet in das Blau hinein, so habe ich hier in den letzten Wochen oftmals den Himmel gesehen, ja bestaunt, konnte mich nicht sattsehen an ihm. Singt die Amsel nicht immer wieder auch noch in der Dämmerung ihr Lied, als einzelner Vogel? Überhaupt: die Amseln sind wieder da, nachdem sie im letzten oder war es schon im vorletzten Sommer von einem schlimmen Virus befallen worden waren. Viele sind gestorben. Im letzten Jahr hat überhaupt keine Amsel gesungen. Ich hatte sie vermisst und des Öfteren darüber gesprochen, hatte eine Freundin, die einen großen Garten hat, gefragt, ob sie im Sommer eine Amsel gehört hätte. Sie verneinte. Wie tröstlich, dass jetzt so viele wieder da sind. Im nächsten Jahr wird hoffentlich diese Pandemie vorbei sein und wir werden uns wieder frei bewegen können. Und wir werden hoffentlich vieles anders machen, gerechter wirtschaften, das Klima schützen, bewusster leben.

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Ich verlasse das Gewächshaus und blicke mich um. Die Maisonne tanzt durch die Luft und durch das Grün. Am Mittag höre ich wieder eine Amsel singen. Sie kennt den Schmerz dieser Zeit.

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Alle Beiträge des Erzählprojektes »Die Liebe in Zeiten von Corona«

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Schlagwörter: Hoffnung Kunst Natur
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