Von Balkon zu Balkon
Sie ist in den Achtzigern, aber noch gut drauf. Wenn wir uns in der Stadt treffen, bleibt meine Nachbarin meist stehen, holt tief Luft, strahlt mich an und sagt mir dann irgendetwas Schönes. Oder sie will etwas von mir wissen. Aber neugierig ist sie nicht. Sie kommt mit ihrem Leben gut zurecht. Wir beide lieben Kontakte zu unseren Mitmenschen. Doch seit Wochen treffen wir uns nicht mehr auf der Straße …
In Corona-Zeiten ist unser Kontakt auf unsere Balkonnachbarschaft beschränkt. Meine Nachbarin wohnt im Haus vis-à-vis, genau auf dem gleichen Stock. Unsere Balkone sind durch einen mit drei Bäumen bepflanzten Hof voneinander getrennt. In der Mitte plätschert ein kleiner Brunnen. Wir sehen uns seit Wochen immer wieder für einige Augenblicke über den Hof hinweg, vor allem wenn wir bei dem schönen Wetter unsere Wohnzimmertüren offen lassen. Hallo – morgens, hallo – abends! Oft stehen wir uns einfach in den Balkonen gegenüber, wortlos. Derzeit ist ja sonniges Wetter – so ganz im Gegensatz zur düsteren Corona-Stimmung.
Meine Nachbarin steht meist etwas später auf als ich. Abends lässt sie früh die Rollläden herunter. Sie hängt ihre Kleider häufig an die Luft und ist öfters mit ihrem Haushalt beschäftigt, was ich von mir nicht behaupten kann. In Corona-Zeiten nimmt man sich anders wahr als sonst. Abends um 21 Uhr, wenn die Glocken in der Stadt läuten, stehe ich mit einer Kerze in meinem Balkon und flehe gen Himmel, der Pandemie doch Einhalt zu gebieten. Meine Nachbarin hat keine Kerze, aber sie winkt mir als Gute-Nacht-Gruß noch einmal zu.
Unsere Hallo-Balkonnachbarschaft ist insofern bemerkenswert, weil die anderen Hausbewohner/innen offensichtlich nichts voneinander wissen wollen. Von den Nachbarn rechts und links, oben und unten kriege ich nichts mit. Sie tauchen auf ihrem Balkon auf, und schon sind sie wieder weg. Nur unten rechts gegenüber hat eine Frau abends beim Glockenläuten ein paar Mal eine Kerze angezündet, nachdem sie zu mir hochgeschaut hatte.
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Weil ich unsere Balkonnachbarschaft toll fand, wollte ich es mein Gegenüber wissen lassen, schrieb ein paar freundliche Zeilen und warf sie in ihren Briefkasten. Darauf bedankte sich meine Nachbarin postwendend, wieder über den Briefkasten: »… Ihr Gruß freute mich sehr … Es ist ein Drandenken und Miteinander von Balkon zu Balkon … Es ist schwer, sich nicht so frei bewegen zu können. Wir halten aber durch! Gott hat uns nicht den Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Stärke, des Mutes und des Vertrauens. Es wird alles wieder gut. Vielen, vielen Dank für Ihr Drandenken …«
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