Wann haut’s dem Fass die Corona vom Kopf?
Je mehr es in mir darüber nachdenkt, umso höchstere Zeit wird’s, denn selten kommen mehr Denk- und Verhaltensfehler zusammen als zur Unzeit. Unzeit ist, wenn etwas quersteckt oder nicht rundläuft. Deshalb haben wir aktuell eigentlich keine Unzeit: Es läuft ja alles rund und zunehmend runder. Die Grundrechte treiben nicht quer. Sie brauchten nicht einmal abgeschafft zu werden. Die Viro- und Infektiologen äußern sich allabendlich so, als gäbe es die Politiker nicht mehr. Es gibt sie wirklich nicht mehr. Ist das ein Putsch? Ja, aber für einen löblichen Zweck. Das Bundesverfassungsgericht blieb außen vor. Schockstarre? Die verfassungsmäßigen Rechte wurden außerparlamentarisch in Quarantäne geschickt. Das beschert Ellenbogenfreiheit.
Jetzt sage bitte keiner, Corona sei schuld. Schon immer haben freiheitsliebende Menschen auf Verbote gewartet, um ihre Freiheiten links liegen zu lassen. Schon immer haben sich ratlose Politiker an die Rockschöße der Experten geklammert. Da es sich auf Einbahnstraßen flotter fährt als bei Gegenverkehr, stellte sich die naheliegende Frage: »Was können wir alles verbieten, damit die Leute gesund bleiben? Und was noch?« Die schüchterne, mundgeschützte Antwortfrage: »Und was dürfen wir noch?«, prallte auf ein barsches »Willst du, dass die Ärzte aus Mangel an Beatmungsgeräten dem einen Patienten etwas gewähren, was sie dem anderen versagen müssen?« Unbelehrbar wie der Bräutigam vor dem Pfarrer sage ich: »Ja, ich will.« Ja, ich will, dass die Ärzte in auswegloser Lage diese Entscheidung nicht etwa ohne Ansehen der Person treffen, sondern nach sorgfältigem Ansehen der Person: Du zur hoffentlich lebensrettenden Behandlung auf die Intensivstation, du nicht. Die ausweglose Lage tritt ein, wenn:
Summe der Corona-Patienten > Summe der Beatmungsgeräte
Daraus lässt sich die Zahl derer ermitteln, die aufgegeben werden müssen:
Summe der Corona-Patienten – Summe der Beatmungsgeräte = Summe der aufgegebenen Corona-Patienten
Publik-Forum EDITION
»Das Ende des billigen Wohlstands«
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Kein Arzt wird Todesurteile aussprechen, sondern wird ein Höchstmaß an Lebenschancen ergreifen. Aber ein Höchstmaß umfasst viele, sehr viele, aber nicht alle. Die Politiker, die gerade aus ihren Mauselöchern kommen, sollen nicht sagen, was verboten, sondern, was erlaubt ist. Nicht, was wir lassen sollen, sondern, was wir tun dürfen, also müssen. Sie sollen sagen, was wir tun müssen, damit wir bloß nicht zu wenig tun dürfen. Und was wir tun können müssen, damit das Viele, das wir lassen sollen müssen, weniger und erträglicher wird. Und verfassungskonformer.
Ungefähr so interpretiere ich die Einschätzung von Wolfgang Schäuble, dass das Recht auf Leben nicht über jedem anderen konkurrierenden Recht steht. Der Tübinger OB Boris Palmer hat folgerichtig kalkuliert, was auf dem Spiel steht: Verlust von Lebensjahren im Vergleich zum gesamtgesellschaftlichen Einsatz für deren Erhalt. In Deutschland stirbt jährlich knapp eine Million Menschen, etwas über ein Drittel davon an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, etwas über ein Viertel davon an Krebs. Immerhin 10 000 nehmen sich selbst das Leben, mehr als durch Drogen, Straßenverkehr, HIV und Mord insgesamt umkommen. Wer um die 80 Jahre alt ist und ganz gut erhalten, also so ein Kerl wie ich … Wenn der nun mit Corona eingeliefert wird, dann gibt es ein Beatmungsgerät für ihn oder es gibt keins. Wenn ja, kommt er mit 18-prozentiger Wahrscheinlichkeit davon. Wovon? Na ja, mit 80 anstatt mit 85 sterben zu müssen. Wenn 80 Prozent der Davongekommenen in den nächsten fünf Jahren sterben, dann haben sie rechnerisch jedes Jahr ein galoppierendes Sterberisiko von durchschnittlich 16 Prozent. Das arme Schwein, für das es kein Beatmungsgerät gab, also ich, erweist sich als Glückspilz. Meine Gewinn-und-Verlust-Rechnung: Ich gewinne ein angst- und schmerzfreies Sterben dank einer Opiatgabe. Ich verliere maximal fünf Lebensjahre von galoppierend abnehmender Lebensqualität und setze meinen sanften Tod aufs Spiel, umzingelt von wohlmeinenden Tod-Feinden, die gegen den unbesiegbaren Tod anrennen, anstatt einem langen, unbeschwerten Leben ein gnädiges Ende zu gönnen. Aber vielleicht gehöre ich ja zu den 20 Prozent, die jenseits der 85 noch Leben zu erwarten hätten. Vielleicht. Dann aber wird die Gewinn-und-Verlust-Rechnung sehr düster. Jedem steht es frei, das zu wollen. Steht es auch jedem zu, die Kosten dafür der Gesellschaft aufzubürden?
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Dies ist ein Beitrag im Rahmen des Erzählprojektes von Publik-Forum »Die Liebe in Zeiten von Corona«. Wir laden unsere Leserinnen und Leser ein zu unserem Erzählprojekt: Bitte schreiben Sie uns Ihre Erfahrungen, Nöte, Ängste und Ihre Zuversicht in Zeiten von Corona.