Zur mobilen Webseite zurückkehren

Wann haut’s dem Fass die Corona vom Kopf?

von Dr. Norbert Becker, Freiburg
vom 30.04.2020
Artikel vorlesen lassen

Je mehr es in mir darüber nachdenkt, umso höchstere Zeit wird’s, denn selten kommen mehr Denk- und Verhaltensfehler zusammen als zur Unzeit. Unzeit ist, wenn etwas quersteckt oder nicht rundläuft. Deshalb haben wir aktuell eigentlich keine Unzeit: Es läuft ja alles rund und zunehmend runder. Die Grundrechte treiben nicht quer. Sie brauchten nicht einmal abgeschafft zu werden. Die Viro- und Infektiologen äußern sich allabendlich so, als gäbe es die Politiker nicht mehr. Es gibt sie wirklich nicht mehr. Ist das ein Putsch? Ja, aber für einen löblichen Zweck. Das Bundesverfassungsgericht blieb außen vor. Schockstarre? Die verfassungsmäßigen Rechte wurden außerparlamentarisch in Quarantäne geschickt. Das beschert Ellenbogenfreiheit.

Jetzt sage bitte keiner, Corona sei schuld. Schon immer haben freiheitsliebende Menschen auf Verbote gewartet, um ihre Freiheiten links liegen zu lassen. Schon immer haben sich ratlose Politiker an die Rockschöße der Experten geklammert. Da es sich auf Einbahnstraßen flotter fährt als bei Gegenverkehr, stellte sich die naheliegende Frage: »Was können wir alles verbieten, damit die Leute gesund bleiben? Und was noch?« Die schüchterne, mundgeschützte Antwortfrage: »Und was dürfen wir noch?«, prallte auf ein barsches »Willst du, dass die Ärzte aus Mangel an Beatmungsgeräten dem einen Patienten etwas gewähren, was sie dem anderen versagen müssen?« Unbelehrbar wie der Bräutigam vor dem Pfarrer sage ich: »Ja, ich will.« Ja, ich will, dass die Ärzte in auswegloser Lage diese Entscheidung nicht etwa ohne Ansehen der Person treffen, sondern nach sorgfältigem Ansehen der Person: Du zur hoffentlich lebensrettenden Behandlung auf die Intensivstation, du nicht. Die ausweglose Lage tritt ein, wenn:

Summe der Corona-Patienten > Summe der Beatmungsgeräte

Daraus lässt sich die Zahl derer ermitteln, die aufgegeben werden müssen:

Summe der Corona-Patienten – Summe der Beatmungsgeräte = Summe der aufgegebenen Corona-Patienten

Anzeige

Publik-Forum EDITION

»Das Ende des billigen Wohlstands«

Wege zu einer Wirtschaft, die nicht zerstört.»Hinter diesem Buch steckt mein Traum von einer Wirtschaft, die ohne Zerstörung auskommt. / mehr

Kein Arzt wird Todesurteile aussprechen, sondern wird ein Höchstmaß an Lebenschancen ergreifen. Aber ein Höchstmaß umfasst viele, sehr viele, aber nicht alle. Die Politiker, die gerade aus ihren Mauselöchern kommen, sollen nicht sagen, was verboten, sondern, was erlaubt ist. Nicht, was wir lassen sollen, sondern, was wir tun dürfen, also müssen. Sie sollen sagen, was wir tun müssen, damit wir bloß nicht zu wenig tun dürfen. Und was wir tun können müssen, damit das Viele, das wir lassen sollen müssen, weniger und erträglicher wird. Und verfassungskonformer.

Ungefähr so interpretiere ich die Einschätzung von Wolfgang Schäuble, dass das Recht auf Leben nicht über jedem anderen konkurrierenden Recht steht. Der Tübinger OB Boris Palmer hat folgerichtig kalkuliert, was auf dem Spiel steht: Verlust von Lebensjahren im Vergleich zum gesamtgesellschaftlichen Einsatz für deren Erhalt. In Deutschland stirbt jährlich knapp eine Million Menschen, etwas über ein Drittel davon an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, etwas über ein Viertel davon an Krebs. Immerhin 10 000 nehmen sich selbst das Leben, mehr als durch Drogen, Straßenverkehr, HIV und Mord insgesamt umkommen. Wer um die 80 Jahre alt ist und ganz gut erhalten, also so ein Kerl wie ich … Wenn der nun mit Corona eingeliefert wird, dann gibt es ein Beatmungsgerät für ihn oder es gibt keins. Wenn ja, kommt er mit 18-prozentiger Wahrscheinlichkeit davon. Wovon? Na ja, mit 80 anstatt mit 85 sterben zu müssen. Wenn 80 Prozent der Davongekommenen in den nächsten fünf Jahren sterben, dann haben sie rechnerisch jedes Jahr ein galoppierendes Sterberisiko von durchschnittlich 16 Prozent. Das arme Schwein, für das es kein Beatmungsgerät gab, also ich, erweist sich als Glückspilz. Meine Gewinn-und-Verlust-Rechnung: Ich gewinne ein angst- und schmerzfreies Sterben dank einer Opiatgabe. Ich verliere maximal fünf Lebensjahre von galoppierend abnehmender Lebensqualität und setze meinen sanften Tod aufs Spiel, umzingelt von wohlmeinenden Tod-Feinden, die gegen den unbesiegbaren Tod anrennen, anstatt einem langen, unbeschwerten Leben ein gnädiges Ende zu gönnen. Aber vielleicht gehöre ich ja zu den 20 Prozent, die jenseits der 85 noch Leben zu erwarten hätten. Vielleicht. Dann aber wird die Gewinn-und-Verlust-Rechnung sehr düster. Jedem steht es frei, das zu wollen. Steht es auch jedem zu, die Kosten dafür der Gesellschaft aufzubürden?

______

Alle Beiträge des Erzählprojektes »Die Liebe in Zeiten von Corona«

______

Jeden Morgen kostenlos per E-Mail: Spiritletter von Publik-Forum

4 Wochen freier Zugang zu allen PF+ Artikeln inklusive E-Paper
Kommentare und Leserbriefe
Ihr Kommentar
Noch 1000 Zeichen
Wenn Sie auf "Absenden" klicken, wird Ihr Kommentar ohne weitere Bestätigung an Publik-Forum.de verschickt. Sie erhalten per E-Mail nochmals eine Bestätigung. Der Kommentar wird veröffentlicht, sobald die Redaktion ihn freigeschaltet hat. Auch hierzu erhalten Sie ein E-Mail. Siehe dazu auch Datenschutzerklärung.

Mit Absenden des Kommentars stimmen Sie der Verarbeitung Ihrer Daten zur Bearbeitung des Kommentars zu. Zum Text Ihres Kommentars wird auch Ihr Name gespeichert und veröffentlicht. Die E-Mail-Adresse wird für die Bestätigung der Bearbeitung genutzt. Dieser Einwilligung können Sie jederzeit widersprechen. Senden Sie dazu eine E-Mail an [email protected].

Jeder Artikel kann vom Tag seiner Veröffentlichung an zwei Wochen lang kommentiert werden. Publik-Forum.de behält sich vor, beleidigende, rassistische oder aus anderen Gründen inakzeptabele Beiträge nicht zu publizieren. Siehe dazu auch Netiquette.
Publik-Forum
Publik-Forum
Einen Moment bitte...
0:000:00
1.0