»Wie siehst Du die Corona-Krise?«
… so fragte mich vor Tagen Josefine in einer Mail. Heute versuche ich ihr darauf zu antworten.
Zunächst: Fast alle Termine fallen aus: Anstrengendes, Schönes, wirklich Wichtiges, vermeintlich Wichtiges, Nachholbares, Unwiederbringliches …
Das bedeutet zunächst: Ich gewinne Zeit.
Aber auch: Ich vermisse Begegnungen und Erfüllung in Aufgaben, und ich befrage die Bedeutung der bisherigen Lebensgestaltung.
Allerdings: Mit der Zeit werden meine Mails vielfältiger, ausführlicher, gehaltvoller, Spaziergänge in den Wald mit jeweils einer Person mehren sich, Telefonate werden länger und intensiver, es geht immer öfter um tiefere Lebensfragen. Ich rufe von mir aus ältere Menschen an. Ich gewinne Lebensqualität.
Und mein Mann und ich feiern alleine Ostern, überlegen, wie wir es zu zweit gestalten, und können es, obwohl bisher fast immer alle Kinder da waren. Es gelingt uns gut. Und wir stellen fest, in diesem Jahr entwickeln die erwachsenen Kinder eigene Gestaltungsformen und Rituale. Unser gemeinsames Treffen ersetzt – dank heutiger Technik – ein Skype-Treffen am Ostersonntag, bei dem die anwesenden elf Familienmitglieder ihre Sichtweise der Corona-Zeit erzählen und wie es ihnen damit ergeht, beruflich und privat.
Ich denke viel nach über Krisen, und es wird mir bewusst, was unsere Vorfahren alles zu bestehen hatten und wovon wir heute Lebenden bisher sehr verschont wurden. Und wie die meisten von uns auch jetzt noch vieles Nicht-Selbstverständliche haben: reichlich Essen und Trinken, Wohnung, blühende Natur, öffentliche Ordnung und demokratische PolitikerInnen. Und dass wir damit sehr privilegiert leben im Vergleich zu vielen anderen Menschen und Ländern auf unserer Welt.
Und ich denke mehr über das Leben und Sterben nach: über das Leben und was wirklich wichtig ist, was wir wirklich brauchen und was uns wirklich weiterbringt. Und ich führe mir auch immer wieder das Sterben vor Augen. Ich spüre dabei das mir geschenkte Grundvertrauen in Gott und danke da in den Himmel hinein nachträglich meinen Eltern, meiner Oma und vielen Menschen, die mir auf meinem Lebensweg geholfen haben, dass diese tragende Gottesbeziehung in mir wachsen durfte. Dadurch kann ich – trotz all dem, was sich ereignet – an einen dahinterliegenden Sinn glauben und auf Seine Führung vertrauen. In den derzeitigen Gesprächen scheint das immer wieder durch, ich komme gerade jetzt mit vielen Menschen auf ihre Lebenssichtweisen zu sprechen, sie erzählen von ihren Zweifeln, von ihrer Angst und Sorge und von ihrer Hoffnung und ihren Erfahrungen: Die Gespräche werden derzeit »wesentlicher«, so empfinde ich das.
»Wesentlicher« wird auch das Einkaufen: In der vergangenen Woche, in der wieder einige Läden öffnen konnten, haben – so wurde berichtet – die Menschen nur 40 Prozent des sonst Üblichen eingekauft. Es hieß in den Nachrichten: »Die Menschen kaufen nur das, was sie wirklich brauchen.« Ja, ist das nicht genau die heute notwendig gebotene Haltung, damit wir die kostbaren Ressourcen unserer Erde schonen? Natürlich muss sich dann die Wirtschaftsweise und Lebensweise der Menschen umbauen. Ich meine: Können wir dazu nicht gerade jetzt einen wichtigen Lernprozess beginnen?
Weil ich ein Grundinteresse an Menschen und ihrer Lebensbewältigung in mir trage, habe ich aus Gesprächen und Mails seit Beginn der Corona-Krise »Botschaften« gesammelt.
Hier einige Beispiele:
»Die Ruhe tut richtig gut – man muss nicht mehr fort, man versäumt nichts mehr, wenn man daheimbleibt.«
»Die viele Zeit in der Natur genieße ich ungemein. So viel Frühling wie dieses Jahr habe ich bisher selten erlebt.«
Eine junge Mutter nimmt sich vor, Palmsonntag, die Kartage und Ostern mit ihren zwei Kindern zu gestalten – zu basteln, zu beten, Geschichten zu lesen –, und verwendet dazu die Anregungen der Diözese. »In normalen Jahren wäre ich da nicht drauf gekommen.«
»Ich brauche jetzt wesentlich weniger Geld, ich überlege ob ich nicht meine Stunden in Zukunft reduziere. Der pausenlose und sinnlose Konsum wurde unterbrochen.«
»Dieses Ostern steht heuer unter ganz vielen anderen, neuen, schmerzlichen, aber auch tröstenden und hoffnungsvollen Gedankengängen. Wir haben sogar Zeit, uns damit auseinanderzusetzen – denn wir müssen dahoam bleim«, schreibt eine Kreisbäuerin.
»Meine Kinder lernten es, sich selbst zu beschäftigen.«
Hilfsbereitschaften werden geweckt, zum Beispiel haben sich 2000 Studenten gemeldet, um schwächeren Schülern zu helfen. Unser Sohn meldete sich bei der evangelischen und bei der katholischen Gemeinde in München zum Helfen; er kam auf die Warteliste, weil sich bereits so viele gemeldet hatten.
Aus einer Predigt:
»Diese Situation hat uns viel genommen und wird uns noch viel nehmen, unsere Gesellschaft wird wohl ärmer, aber auch reifer – und vielleicht wird auch unser Glaube reifer. Wir müssen vieles abwerfen, um das Wesentliche zu finden, wir werden einfacher und bescheidener werden. Es braucht die Pause, die Leere, damit wirklich Neues werden kann. Neu offenbart sich gerade, was wirklich wichtig und was unwichtig ist, wer das Leben in der Krise trägt und nährt und rettet. Welche Fugen es sind, die unsere Gemeinschaft – in der Familie, in der Gesellschaft, der Kirche – wirklich zusammenhalten?«
»Unser weithin sicher geglaubtes Leben erfahren wir als zutiefst verletzlich und zerbrechlich.«
»Wir haben einen Hausgottesdienst gefeiert in der Familie.«
Publik-Forum EDITION
»Das Ende des billigen Wohlstands«
Wege zu einer Wirtschaft, die nicht zerstört.»Hinter diesem Buch steckt mein Traum von einer Wirtschaft, die ohne Zerstörung auskommt. / mehr
»Wir schauten miteinander im Fernsehen den Ostergottesdienst an.«
»Wir sind mit der Familie zur nahegelegenen Kapelle gegangen, haben dort verteilt die Lesungen gelesen, gebetet, und das war unser Palmsonntag.«
»Ich habe mich mit drei Freundinnen am Karfreitag im Wald getroffen, wir haben die Passion gelesen, und jede hatte einen Gebetstext dabei.«
»Als Oma habe ich mich heuer um die gute Gestaltung des Osterfestes mit meinen Enkeln bemüht: Mit all den Geschichten und Back- und Bastelarbeiten aus den Unterlagen unserer Gemeindereferentin habe ich eines der einprägendsten Osterfeste meines Lebens erleben dürfen!«
»Ich erlebe: Glaube kann helfen, Sinnwidriges und Ungewisses auszuhalten. Und motiviert, Menschen im Leiden beizustehen. Ich kenne mehrere Menschen, die täglich einen alten Menschen anrufen. Eine auferlegte Auszeit, fast ohne einengende Termine, macht frei! Alles, auch das Familienleben ist viel intensiver geworden!«
Eine bisher unbekannte Person in unserer Gemeinde malt einen ganz besonderen Engel auf ein Holzbrettl und stellt diesen immer wieder vor eine Haustüre, macht so Freude und spricht Schutz zu – so deute ich es.
Ergänzungen ab 3. Mai 2020
Sollte diese Zeit jetzt eine Lernchance für uns sein? Wofür möglicherweise …?
Diese Zeit jetzt hinterfragt unsere vermeintliche Planungsgewissheit: So wie wir eigentlich nie sagen können, was morgen oder nächstes Jahr in unserem persönlichen Leben sich ereignet, so wissen wir es zurzeit als gesamte Weltgemeinschaft nicht. Für uns sicherheitsverwöhnte und planende heutige Menschen ziemlich neu und herausfordernd!
Diese Zeit jetzt hinterfragt unsere Einstellung zu Leben und Sterben: Wir sehen dieses Erdenleben hier oft als das Allerwichtigste an und wollen es so angenehm und schön wie möglich gestalten. Und verlieren dabei den Blick (und den Glauben!?) an das eigentliche Leben nach dem Sterben hier.
Der Glaube ist für mich noch zentraler geworden, die Familie steht noch höher im Kurs – und es ist so schön, dass alle zu Hause sind …
Es sind für mich Zeiten des Innehaltens, des Gangs in die eigene Tiefe, der Auseinandersetzung mit Endlichkeit und Sterben, dem Tod und dem Wesentlichen im Leben. Nie habe ich die Kartage und Ostern intensiver erlebt, und diese Erfahrung trägt mich durch die Tage. Und nie habe ich in Beratungen auch das bei Menschen so intensiv erfahren.
Ich habe mehr Zeit zum Gebet und zum Malen.
Wir wurden in den letzten acht Wochen, in der Zeit des sogenannten teilweisen »Shutdown«, quasi gezwungen, ohne Zwänge zu leben: Kein Zwang zum Konsum, wenn ein großer Teil der Geschäfte geschlossen ist, kein Zwang zu verreisen, wenn eine Ausgangssperre verhängt ist, kein Zwang, auf ein Fest zu gehen, wenn keine Versammlungen erlaubt sind, kein Zwang, ins Büro zu fahren, wenn Homeoffice oder gar Kurzarbeit angesagt ist, und natürlich auch kein Zwang, zur Schule oder in die Uni zu gehen, wenn die Gebäude geschlossen sind.
Am Wochenende bin ich zu Hause geblieben, habe keine Shoppingtour unternommen oder Freunde besucht, stattdessen in Ruhe geputzt, im Garten gearbeitet, gebacken, gekocht und endlich mal wieder Zeit für ein gutes Buch gehabt. Unsere Kinder sind alle daheim, auch unser Ältester, der seit Oktober im Studium ist. Jetzt geht’s darum, wie ich nach den Aufhebungen der Beschränkungen in der Corona-Zeit auch weiterhin diesen mir und der Umwelt wohltuenden Lebensstil beibehalten kann. Wenn ich es auch in Zukunft schaffe, mich ein wenig von dem Konsumzwang zu befreien, dann nicht nur aufgrund meines Wissens um die fatalen Folgen für unsere Umwelt, sondern vor allem aufgrund der Erfahrung, wie gut es auch mir tut und dass ich meine Zeit sinnstiftender anders verbringen kann.
Der Haiminger Bibelkreis konnte sich nicht persönlich treffen, die Leiterin des Abends regte an, sich zur geplanten Stunde geistig zu verbinden, gab die Bibelstelle bekannt, die sie für den Abend geplant hatte, lud ein, die gewohnten Bibelteil-Schritte zu gehen und, wer mag, Erfahrungen und Erkenntnisse dann schriftlich mitzuteilen.
Zwei Pfarrgemeinderätinnen halten am Tag der Erstkommunion – die abgesagt ist – eine Kommunionandacht in ihrer Pfarrkirche, indem sie einen Videofilm gestalten für die Kommunionkinder und ihre Familien. Darin aufgenommen sind die Porträtbilder der Kinder, die um den Altar stehen, eine Geschichte, Text und Fürbitten.
Ein Vater schreibt:
»Für erwachsene Kinder – die sich von daheim gelöst haben und in kleinen Zimmern in den Städten leben – wird die manchmal leichtfertig verschmähte Geborgenheit der Familie wieder zum wärmenden Gut. Aber auch die Schulkinder machten ihre Erfahrungen: Sie mussten durch den ferngesteuerten Digitalunterricht selbstständiger werden. Und: Wenn Schule digital ist, haben Kinder in der Freizeit tatsächlich irgendwann genug von der Dauerberieselung im virtuellen Raum und wollen was mit ihren Händen tun.«
So hat sein Sohn das Werkeln mit Holz entdeckt, und seine Tochter bringt einer Freundin das Reiten bei – und entdeckte ihre Lust am Kochen zur Freude der ganzen Familie.
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Dies ist ein Beitrag im Rahmen des Erzählprojektes von Publik-Forum »Die Liebe in Zeiten von Corona«. Wir laden unsere Leserinnen und Leser ein zu unserem Erzählprojekt: Bitte schreiben Sie uns Ihre Erfahrungen, Nöte, Ängste und Ihre Zuversicht in Zeiten von Corona.