Wohltuende Atempause
Stillstand des öffentlichen Lebens: Das Corona-Virus geht um. Es ist neu, brandgefährlich. Und noch gibt es kein Medikament zur Behandlung. Besonders ältere Leute sind gefährdet. Bei wenig eigenen Abwehrkräften lauert der Tod. Also verfügt die Regierung – besonders für die Risikogruppe der Älteren ab sechzig Jahren (ich gehöre dazu, ich zähle 88 Jahre) – : Die Wohnung nicht verlassen, keinen Besuch empfangen, Kinder, Enkel oder Nachbarn um Einkauf bitten! Ich finde die Maßnahme wichtig, komme mir aber eingesperrt vor. Was für ein Leben! Tag und Nacht nur in den eigenen vier Wänden aufhalten! Nichts für mich! Nur im Schutz leben! Ist das ein Leben? Ich habe beschlossen: Ich bin für mich verantwortlich. Ich lebe trotz Corona ein Stück Freiheit: Ich gehe mit dem vorgeschriebenen Mundschutz, halte 1,50 Meter Abstand. Und ich wage mich raus, wenn möglichst wenig Leute auf der Straße oder in den Geschäften sind: morgens früh oder mittags circa. zwei Uhr. So kann ich mich bewegen und die frische Luft genießen.
Die schönsten Ausflüge aber fanden auf dem Friedhof beziehungsweise im Wald statt. Da gab es wenig Menschen. Und da ja keine Veranstaltungen stattfinden durften, hatte ich alle Freiheit, mich ohne Zeitlimit draußen aufzuhalten. Es war Frühjahr – Mitte März –, viele Angehörige schmückten die Gräber mit leuchtenden Frühlingsblumen: Tulpen, Hyazinthen, Primeln, Vergissmeinnicht und andere mehr. Es war eine Freude, diese Farbenpracht anzusehen. Dazu duftete es nach frischer Erde. Ich bin spazieren gegangen, habe auf den Grabsteinen viele bekannte Namen gefunden. So kamen unzählige belebende Erinnerungen an vergangene Begegnungen hoch. Es war sehr spannend. Oft bin ich auch im angrenzenden Wald gelaufen. Nie habe ich das Frühjahr so intensiv erlebt: Das wunderschöne, sonnige Wetter lockte Blumen und Blätter hervor. Jeden Tag gab es etwas Neues zu entdecken: Gänseblümchen hoben ihre Köpfe, der gelbe Löwenzahn entfaltete sich, die blaue Wegwarte zeigte sich, Brennnesseln sprossen aus der Erde. Da habe ich mir gleich frische Spitzen für einen gesunden Tee mitgenommen. Die Vögel sangen um die Wette: Natürlich Amsel und Drossel, dazu trillerte der Buchfink seine Melodie, der Zilpzalp ließ sich hören, der Grünfink ließ seinen Singsang ertönen, und viel andere noch. Ich fühlte mich glücklich in Gottes wunderbarer Welt. Als dann die Bäume Blätter bekamen und sich ein belebender frischer Duft verbreitete, hatte ich das Bedürfnis, tief einzuatmen. Ich fühlte eine unendliche Dankbarkeit für Gottes Schöpfung. Nie habe ich so intensiv den Frühling wahrgenommen. Dieses großartige Erlebnis klingt bis heute in mir nach. Ich denke gerne an die Zeit der Entschleunigung zurück, ja, sie hallt noch immer leuchtend in mir nach, wärmt mein Herz und meine Seele. Corona hat mir eine wohltuende Atempause geschenkt.
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