Wolfgang Thierse
Angefragt, ob ich interessiert und bereit sei, in den Herausgeberkreis von Publik-Forum einzutreten, habe ich nach leichtem Zögern (an Beschäftigungsmangel leide ich ja nicht) zugesagt. Muss ich das erklären, gar rechtfertigen? Vielleicht ja.
Für manchen Zeitgenossen sind Parteipolitiker – ein solcher war ich schließlich längere Zeit – verbrannt oder jedenfalls verdorben für »Anschlussverwendungen« neutraler zivilgesellschaftlicher Art.
Nun bin ich die längste Zeit meines Lebens nicht Politiker gewesen, genauer: habe es nicht sein können, obwohl ich politische Leidenschaft schon seit Kindesbeinen entwickelt habe. Geboren 1943 in Breslau, durch die Vertreibung in Thüringen gelandet, habe ich volle vierzig Jahre in der DDR gelebt und lebe seit nunmehr über fünfzig Jahren in (Ost-)Berlin. Ich bin geprägt durch Minderheits- und Differenzerfahrungen: als katholischer Christ unter vielen Protestanten (noch in den fünfziger Jahren), dann als Christ unter lauter Atheisten oder Glaubensfernen (ich habe diese Erfahrung zu beschreiben versucht im Vorwort zu Harald Kirschners schönem Bildband »Credo. Kirche in der DDR«, erschienen 2017), in meinem beruflichen Leben (ich habe Kulturwissenschaft und Germanistik studiert und mich bis 1990 an der DDR-Akademie der Wissenschaften mit der Geschichte der Ästhetik befasst) als Nicht-SED-Genosse unter lauter SED-Genossen.
Solcherart Prägungen verlieren sich nicht ganz, vermute ich, auch wenn man ein öffentliches Leben führt, wie das für mich seit der Friedlichen Revolution und der deutschen Vereinigung 1989/90 gilt. Ich war Parteivorsitzender der neugegründeten SPD in der DDR, stellvertretender Fraktionsvorsitzender im Bundestag, dessen Präsident und Vizepräsident. Als Nachfolger von Erhard Eppler habe ich viele Jahre die Grundwertekommission der SPD geleitet, war lange Zeit Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie und bin bis heute einer der beiden Sprecher des Arbeitskreises Christinnen und Christen in der SPD, den ich selbst mitgegründet habe. Mein Interesse – man sieht es an diesen Funktionen – galt immer eher den grundsätzlichen Fragen und längerfristigen Perspektiven von Politik und politischer Kultur, den Beziehungen zwischen Politik und Kultur, Wissenschaft, Religion.
Das macht das Publik-Forum für mich interessant; ich lese es schon lange, oft mit Zustimmung, gelegentlich auch mit Ärger. Weil mich interessiert, wie das gelingt, weil ich mir wünsche, dass es gelingt: überzeugt Christ zu sein – und zugleich pluralismusfähig, also kritisch und selbstkritisch, selbstbewusst und tolerant, wertefundiert und dialogbereit, dem Zeitgeist und Mainstream nicht erliegend, sondern ihn sezierend und widersprechend…
Zu viel erwartet und verlangt? Publik-Forum zeigt, dass es geht.