Der alltägliche Familienwahnsinn in Zeiten des Aufruhrs
Roman. In Olgas Leben läuft nichts richtig: Ihr Großvater beherrscht als Patriarch das Familienleben und terrorisiert Olgas Tanten und Cousinen mit seinen Launen. Außerdem zwingt er Olga, Medizin zu studieren. Vor ihm muss sie den Schein wahren, dass ihr Studium bestens läuft und sie ihre Zeit damit verbringt, zu lernen. Zudem ist Olgas Liebesleben ein riesiges Durcheinander, von ihrer besten Freundin Mascha fühlt sie sich im Stich gelassen. Die interessiert sich neuerdings nicht mehr nur für Jungs, sondern auch für Politik. Die Geschichte spielt in der Ukraine im Jahr 2014. Der Konflikt zwischen Maschas Eltern spiegelt die Spaltung im Land: »Maschas Mutter himmelt alles an, was in irgendeiner Beziehung zur Ukraine steht, während ihr Vater im Russischen die wahre Stärke sieht.«
Irina Kilimniks Roman ist eine Liebeserklärung an ihre Heimatstadt Odessa vor Krieg und Zerstörung. Ihre verträumten Beschreibungen fangen die Atmosphäre der nach »gebratener Aubergine, Knoblauch und gegrillter Dorade« duftenden Stadt mit ihren Badestränden und Boulevards ein. Die Welt ist noch in Ordnung, jedenfalls fast, denn die Krim ist bereits besetzt. Von den Demonstrationen rund um den Euromaidan wird nur beiläufig und unterschwellig erzählt. Denn Olga will von all dem nichts wissen. Zu sehr ist sie von ihren eigenen Problemen eingenommen. Aber warum sollte sich das ganz alltägliche Leben nicht auch in Krisen- und Kriegszeiten seinen Weg bahnen? So erzählt Kilimnik leicht und humorvoll von Lügen, Liebesenttäuschungen und Familienwahnsinn. Als ein alter Freund des Großvaters mit einem Geheimnis auftaucht, ahnt Olga, dass es ihr Leben auf den Kopf stellen wird. Ein wunderbares Buch – und ein Requiem für eine Stadt, die es so nicht mehr gibt.
Irina Kilimnik: Sommer in Odessa. Kein & Aber. Berlin 2023. 288 Seiten. 24 €