Pro und Contra
Fallpauschalen abschaffen?
Linda van Riesen
Ja, denn Gesundheit ist keine Ware!
Krankenhäuser sollten Orte sein, in denen Menschen bei Krankheit oder Verletzung Hilfe und Zuwendung erhalten und genesen können. Sie sind in Deutschland aber zu Spekulationsobjekten für Kapitalanleger geworden. Aktienkonzerne erwirtschaften mit der Ware Gesundheit Gewinne, die als Rendite an Anleger ausgeschüttet werden.
Durch das Fallpauschalensystem werden Krankenhäuser unter massiven wirtschaftlichen Druck gesetzt. Leidtragende sind Patientinnen, Patienten und Mitarbeitende. Es sollen möglichst viele Personen mit möglichst kurzer Liegedauer behandelt werden, bei einer überhandnehmenden Dokumentationspflicht. Die enorme Arbeitsverdichtung bei immer weniger Zeit für die Bedürfnisse der Patienten führt zu einer Zunahme an berufsbedingten psychischen Erkrankungen des medizinischen Personals. Viele gehen.
Konservative Therapien, Prävention und menschliche Zuwendung werden im Fallpauschalensystem unzureichend abgebildet. Stattdessen bauen selbst kleine Krankenhäuser gewinnbringende Fachabteilungen aus, etwa Wirbelsäulenchirurgie. Das führt zu einem regionalen Überangebot. Fachabteilungen, in denen Zeit und Zuwendung besonders bedeutsam sind, wie Kinderheilkunde oder Geburtshilfe, werden geschlossen.
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Abrechnen nach Fallpauschalen heißt: Therapien werden strategisch auf mehrere stationäre Aufenthalte aufgeteilt, um mehr zu erlösen. Fachabteilungen einer Klinik konkurrieren um die Patienten. Diese werden quasi noch blutend entlassen. Und oft wieder aufgenommen oder die Kosten der Genesung auf Rehakliniken verlagert. Bisherige Optimierungen haben das Fallpauschalensystem unübersichtlicher und komplexer gemacht, ohne das Grundproblem der finanziellen Fehlanreize zu beheben.
Jürgen Wasem:
Nein, reformieren
ist besser!
In mehr als 20 Ländern finden Fallpauschalen auf Basis der Diagnosis Related Groups bei der Vergütung der Krankenhäuser Anwendung. Dafür gibt es gute Gründe: Die Leistungen der Krankenhäuser werden über die rund 1250 Positionen im Fallpauschalenkatalog transparent dargestellt. Die Vergütung mit einer für alle Krankenhäuser in einem Bundesland einheitlichen Pauschale für die gleiche Position im Katalog bewirkt Anreize, die Leistungen effizient zu erbringen. Da das Fallpauschalensystem als lernendes System konzipiert wurde, wird es stetig weiterentwickelt, wenn der medizinische Fortschritt oder die Kostenentwicklung dies erfordern. Gleichwohl ist die Vergütung der Krankenhäuser in Deutschland zu Recht in der Kritik: In keinem anderen Land hat das Fallpauschalensystem so eine dominante Stellung bei der Vergütung der Krankenhäuser wie bei uns. Die Krankenhäuser erzielen zumeist mehr als 90 Prozent ihrer Einnahmen mit den Fallpauschalen. In anderen Ländern wird dagegen in der Regel auch die Vorhaltung von Kapazitäten oder das Engagement in der Weiterbildung von Ärzten gesondert bei der Vergütung berücksichtigt. Mit einem geringeren Gewicht der Fallpauschalen schwächen sich die negativen Anreize, die von diesem Vergütungssystem ohne Zweifel auch ausgehen. Es macht es attraktiv, die Fallzahlen auszuweiten und beim Pflegepersonal zu sparen. Deshalb ist es notwendig, das Vergütungssystem um andere Komponenten auszuweiten. Verkehrt wäre es, das Fallpauschalensystem komplett abzuschaffen. Wegen der beschriebenen Vorteile wird das höchstwahrscheinlich auch nicht geschehen, denn auch andere Bezahlsysteme für Krankenhäuser haben negative Effekte – es gibt kein Vergütungsmodell ohne Nebenwirkungen.
Linda van Riesen ist Fachärztin für Innere Medizin. Sie ist Mitglied der Kampagne Bunte Kittel, die ein gemeinwohlorientiertes Finanzierungsmodell für die Krankenhäuser fordert.
Jürgen Wasem ist seit 2003 Professor für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen.
Helmut Meijer-Melber 05.12.2022, 09:03 Uhr:
Mehr als 20 Jahre "reformieren" haben am Grundproblem der Fallpauschalen nichts verbessert. Ganz richtig: Gesundheit ist keine Ware. Die Krankenhäuser dürfen kein Spekulationsobjekt für Kapitalanleger sein.