Pro und Contra
Sind Ausgangssperren sinnvoll?
Ulrike Scheffer:
Ja, denn es wird zu viel gefeiert!
Wer in den Tagen und Wochen vor den neuen Corona-Beschränkungen beobachten konnte, was sich am späteren Abend in Deutschlands Städten und Dörfern abspielte, dem wird die sogenannte Ausgangssperre einleuchten. Nicht, weil auf den Straßen Partys gefeiert wurden oder sich Menschen beim Gassigehen mit dem Hund zu nahe kamen. Um den Aufenthalt im Freien geht es bei den vom Bund erlassenen Regelungen gar nicht. Vielmehr soll durch die zeitlichen Ausgangsbeschränkungen unterbunden werden, dass Menschen die geltenden Kontaktbestimmungen missachten und abends in ihren Wohnungen kleinere oder größere Gästescharen empfangen. Das passierte täglich und überall. Da trafen sich Fußballfreunde zum gemeinsamen Schauen eines Champions-League-Spiels, Familien im kleinen Kreis zu Geburtstagsfeiern und zuletzt auch größere Gruppen zum Fastenbrechen im Ramadan. Solche Zusammenkünfte haben das Infektionsgeschehen in den vergangenen Monaten angeheizt.
Wenn man um 22 Uhr zu Hause sein muss, lohnt sich der Besuch bei Freunden und Verwandten kaum. Das ist der Hebel der neuen Regelung und er dürfte – zusammen mit anderen Maßnahmen – wirken. Natürlich ist es bedrückend, dass das private Leben weiter eingeschränkt wird. Dass sich Jugendliche abends nicht einmal mehr im Park treffen können. Doch was ist die Alternative? Schulen und noch mehr Betriebe zu schließen und die Löhne den Steuerzahlerinnen aufbürden? Wer die neuen Beschränkungen wie ein Boulevard-Blatt »Merkels Einsperr-Gesetz« nennt, hat übrigens ein schlechtes Erinnerungsvermögen: Im vergangenen Frühjahr war es zeitweise nicht erlaubt, die Wohnung überhaupt zu verlassen. Ausnahmen gab es damals wie heute viele. Die Aufregung um die neuen Regeln ist daher nur schwer nachzuvollziehen.
Judith Bauer:
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Nein, nicht
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Jetzt müssen wir also alle um zehn zu Hause sein. Seit über einem Jahr ist unser Privatleben an allen Ecken eingeschränkt. Man trifft fast keine Freundinnen mehr, die Freizeit verbringt man zu Hause, denkt nicht mal mehr an Kinos, Cafés und Bars und meidet Menschen ganz allgemein. Aber es geht noch härter, wissen wir jetzt. Ausgangsbeschränkungen ab 22 Uhr: Als Teil eines radikalen Plans gegen die dritte Welle ergibt ein solcher Schritt Sinn. Wenn wir für wenige Wochen alle persönlichen Kontakte auf ein Minimum reduzieren, werden die Infektionszahlen endlich dauerhaft sinken. Aber diesen radikalen Plan gibt es nicht. Die Notbremse lässt viele Lücken. Da ist zunächst die Inzidenzzahl von 100 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohnern innerhalb von sieben Tagen: Wissenschaftlerinnen wie die Virologin Melanie Brinkmann halten sie für viel zu hoch, um Öffnungen danach auszurichten. Die Schulen sind gar bei einer Inzidenz unter 165 offen. Und dann erst die Arbeitswelt: Es gibt nicht einmal eine Testpflicht für Beschäftigte. Neben diesen eher laxen Regelungen wirkt die Ausgangssperre umso drastischer. Das ist eine schlechte Mischung: schmerzhafte Einschränkungen des Privatlebens zusammen mit halbherzigen Maßnahmen in anderen Bereichen, die sich noch dazu wohl noch lange hinziehen werden.
Wie wirksam Ausgangssperren bei der Bekämpfung der Pandemie sind, ist ohnehin umstritten. Das Wort »Ausgangsbeschränkung« suggeriert, man solle nicht mehr nach draußen gehen. Dabei wissen wir: Im Freien ist die Ansteckungsgefahr deutlich niedriger als drinnen. Natürlich zielt die neue Regelung darauf, dass Menschen sich insgesamt weniger miteinander treffen. Doch ungeschützten Kontakt in Innenräumen verhindern die Ausgangssperren nicht.
Ulrike Scheffer verstärkt derzeit das Ressort »Politik und Gesellschaft«
von Publik-Forum.
Judith Bauer ist Volontärin bei
Publik-Forum.
Roland Wachendorf 06.05.2021, 19:00 Uhr:
Ja! Leider, leider, leider! Wenn man den kleien Finger reicht wird zu Oft die ganze Hand genommen und ... mein Grundrecht auf freie Bewegung wird immer durch das Grundrecht auf Schutz und Erhaltung der Gesundheit meines Mitmenschen eingeschränkt. Ich denke, eine Menschenansammlung,ggfls. sogar mit Alkoholverzehr,ist verzichtbarer als ein Treffen mit Bekannten oder Freunden.
Georg Lechner 05.05.2021, 18:26 Uhr:
Die Verhältnismäßigkeit bei den verordneten Maßnahmen war nicht gegeben. Damit kann mit den Ausgangssperren das nicht wettgemacht werden, was durch Nachgeben gegenüber Lobbies (z.B. keine Maskenpflicht in der Industrie) auf der anderen Seite an Ansteckungsmöglichkeiten offengehalten wird.
Wenn etwa gewarnt wird, dass Covid-19 wahrscheinlich nicht die letzte Pandemie in absehbarer Zeit gewesen sein wird, müssten überhaupt technische Vorkehrungen wie Umluftfiltration in Gebäuden sofort in Angriff genommen werden.
Helene Tschacher 02.05.2021, 14:27 Uhr:
Wenn sinnvolle Regeln wie Abstand halten, Maske tragen, Hygiene, eingeschränkte direkte Kontakte von allen eingehalten würden, dann könnte viel mehr möglich sein. Ausgangssperre hilft wenig, wenn Erwachsene, Eltern und Jugendliche sich nicht an die sinnvollen bestehenden Regeln halten wollen.
Thorsten Strobel 30.04.2021, 16:44 Uhr:
Ich bin überrascht über die Aussage von Frau Scheffer: "Solche Zusammenkünfte haben das Infektionsgeschehen in den vergangenen Monaten angeheizt."
Aus welcher Quelle kommt das?
Die aktuelle Auswertung des RKI zum Infektionsumfeld gibt eine solche Schlussfolgerung nicht her. Das Problem ist doch, dass man bei 90% aller Infektionen das Infektionsumfeld nicht herausfindet. Ein Grund dafür wird nur angedeutet (Kapazitätsengpässe in den Gesundheitsämtern).
Ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, dass wir in D die Kontrolle über die Pandemie verloren haben und dass die Maßnahmen deshalb wenig begründet sind und eher nach Aktionismus aussehen. Das ist leider viel Wasser auf den Mühlen der Maßnahmen-Kritiker, das muss nicht sein.