Nachruf
Barfuß in Berlin
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Der voluminöse Vollbart, das kahle Haupt, die leuchtend roten Pullis, die zahlreichen Tattoos auf der Haut: Christian Herwartz entsprach schon äußerlich nicht den Vorstellungen, die man sich gemeinhin von einem Jesuiten macht. 1943 in Stralsund als ältester von sechs Brüdern geboren, brach er die Schule ab, wurde wie sein Vater Soldat, bevor er 1967 den Kriegsdienst verweigerte. Er holte das Abitur nach und trat in den Jesuitenorden ein. Inspiriert von der französischen Arbeiterpriesterbewegung lebte er in Toulouse, Paris, Straßburg, Trosly und von 1978 an in Berlin, wo er mit zwei Mitbrüdern eine Kommunität in Kreuzberg gründete, die für ihre radikale Gastfreundschaft bekannt wurde. In der Wohngemeinschaft können Obdachlose, Haftentlassene, Flüchtlinge, Menschen mit psychischen Problemen ebenso mitleben wie Studierende oder Reisende. Privatsphäre gab und gibt es kaum, Herwartz selbst lebte in einem Mehrbettzimmer und arbeitete als Dreher bei Siemens, bevor er 2000 arbeitslos und verrentet wurde. 1998 bot er erstmals sogenannte Straßenexerzitien an, die schnell überregional bekannt wurden und etliche Nachahmer fanden. Dabei geht es darum, die Straße als heiligen Ort zu erkennen, sich ihr auszusetzen und sie als Ort der Gottesbegegnung wahrzunehmen. Mose vor dem brennenden Dornbusch (Exodus 3,4 ff.) ist das biblische Leitmotiv. Die Aufforderung, die Schuhe auszuziehen, wurde wörtlich verstanden. Was manche als sozialromantisch überhöhte Achtsamkeitsübung erfuhren, führte bei anderen zu einer lebensverändernden Spiritualität. Am 20. Februar ist der radikale Gottsucher nach einer Darmoperation verstorben.