Frau Corona
Mitte des Monats März spricht mich Paula, die kleine Tochter unseres Nachbarn, über den Gartenzaun hinweg an:
»Weißt du schon, dass überall ›Frau Corona‹ ist? Deshalb darf ich nicht mehr in den Kindergarten gehen.«
»Ja«, antwortete ich. »›Frau Corona‹ ist da – obwohl man sie ja nicht sieht. Oder hast du sie schon gesehen?«
»Ja – ich habe sie schon gesehen! Sie ist eine böse Königin mit einer schwarzen Krone auf dem Kopf, aus der sie immer kleine Kügelchen schießt. Und die treffen dann die Kinder oder auch große Leute und machen sie krank.«
Paula ist eben fünf Jahre alt geworden, sie hat eine blühende Phantasie. Laut singend, hüpft sie ein paar Runden durch den Garten. Das ist ihre bewährte Strategie, um sich abzureagieren. Ihrem ›sing-sang‹ entnehme ich, dass es bei diesem ›Rundgesang‹ um ›Frau Corona‹ geht. Das Singen scheint sie zu beruhigen.
Etwa drei Monate später, es ist inzwischen Juni geworden, fragt sie mich von jenseits des Gartenzaunes: »Weißt du, warum ›Frau Corona‹ so böse ist und Menschen krank macht? Mein Papa sagt, sie kommt aus China – ganz weit weg von uns. Kann sie fliegen?«
»Oh – das sind schwierige Fragen«, sage ich. Wie kann ich Paula erklären, dass Corona oder genauer gesagt, das das Covid-19-Virus (SARS-CoV-2) wahrscheinlich von einer Fledermaus mutiert auf den Menschen übergesprungen ist – oder – die andere Variante, dass es vielleicht doch aus einem Labor in China entkommen ist?
Mir fällt im Augenblick keine einfache Antwort auf die einfachen Fragen dieses kleinen Mädchens ein.
Wieso fällt mir keine verständliche Antwort ein? Vermutlich weil es keine einfachen Antworten gibt, nicht einmal für kleine Mädchen. Es sei denn, man ist ein Anhänger von den vielen Verschwörungstheorien, die derzeit im Umlauf sind. Einige von diesen behaupten z. B., Covid-19 sei nur erfunden, um bestimmte Machtpositionen zu erreichen, oder es ist eine Strafe für die Sünder oder … oder …
Paula hat es aufgegeben auf eine Antwort von mir zu warten. Sie dreht wieder ihre Runden und singt dazu.
Ich setze mich auf eine Gartenbank in der Nähe. Und meine Gedanken gehen zurück auf die Anfänge der Pandemie: Mein Gott, liegen die Anfänge erst wenige Monate zurück? So viel ist seither geschehen! Es war etwa Mitte Februar, als die Korrespondenten aus China, der Provinz Wuhan, von diesem Virus berichteten. Es wurden Bilder gezeigt von Menschen mit Mund- und Nasenschutz, von leeren Straßen, Bars und Cafés. Die Nachrichtensprecher berichteten von geschlossenen Schulen und Firmen. Die vielen Sondersendungen versuchten Licht in diese unheimliche Sache zu bringen. Die Regierung Chinas erließ drastische Kontaktsperren und sonstige Maßnahmen, um die Ausbreitung zu verhindern. Noch hoffte man, die Verbreitung des Virus auf die Region Wuhan in China begrenzen zu können. Aber es zeigte sich sehr bald, dass das Virus schon auf dem Vormarsch in viele Kontinente dieser Welt war. Ende Februar 2020 kam es in Deutschland an. Der Versuch, es in der zunächst betroffenen Region, dem Kreis Heinsberg, einzugrenzen, schlug fehl. Im März wurden deshalb bundesweit erstmalig seit der Inkraftsetzung des Grundgesetzes Bestimmungen außer Kraft gesetzt: Eine Kontaktsperre wurde ausgerufen, Es durften sich nur noch Menschen außerhalb des Hauses bewegen, die nachweisen konnten, dass sie dazu berechtigt sind. Dazu gehörte der Einkauf von Lebensmitteln, der Weg zu einer ›systemrelevanten Arbeit‹, z.B. im Gesundheitsdienst oder ein Besuch bei Ärzten, Apotheken usw.
Schulen und Kitas wurden geschlossen, Kinder in Home-Schooling daheim unterrichtet. Betriebe, die nicht für die Grund- und medizinische Versorgung arbeiteten, mussten ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken, oder sie arbeiten, wenn möglich, in Home-Office.
Kleine und mittlere Betriebe wurden vom Staat unterstützt, damit sie die Zeit der Schließung überbrücken konnten. Restaurants, Cafés, Hotels, Reiseunternehmen und die nicht systemrelevanten Einzelhandelsgeschäfte werden geschlossen. Viele dieser kleinen Betriebe standen nach kurzer Zeit vor dem Nichts – trotz Hilfen durch die Bundesregierung.
Ich erinnere mich des bei mir vorherrschenden Gefühls, das ich in dieser Zeit mit vielen Menschen teilte: Die Situation empfand ich einerseits wie ›Unwirklichkeit‹ und als Bedrohung andererseits. Angesichts der recht drastischen Maßnahmen musste es ja einen ›schlimmen Feind‹ geben! Aber man sah ihn nicht, man kam auch kaum persönlich mit seinen Folgen in Kontakt. Lediglich die Nachrichtensprecher erklärten und die Bilder im Fernseher zeigten die bedrohliche Lage – vor allem in anderen Ländern. In Italien, später auch in Spanien, den USA, in Brasilien und in vielen anderen Ländern waren die Folgen der Pandemie sehr viel schlimmer als bei uns. Tote wurden mit Lastwagen zu Friedhöfen gebracht, Angehörige konnten sich von ihnen nicht verabschieden, Kranke lagen in überfüllten Intensivstationen. Das zu sehen, machte Angst! Würde es bei uns auch noch so schlimm werden?
In Deutschland bleibt der Verlauf der Pandemie nach anfänglich steigenden Zahlen Infizierter relativ gemäßigt. Allerdings war in den Alteneinrichtungen die Lage oft sehr angespannt. Diese alten Menschen, die ja zur Hochrisikogruppe zählen, litten sehr unter der absoluten Kontaktsperre. Und wenn trotzdem ein Virus eingeschleppt wurde, waren die Ansteckungsgefahr und die Gefahr eines heftigen Krankheitsverlaufes einfach sehr groß.
Zu dem sonst weitgehend glimpflichen Verlauf hat sicher beigetragen, dass man von ersten Erfahrungen anderer Länder profitieren und unser gutes Gesundheitssystem sich vorbereiten konnte. Und von uns Deutschen sagt man ja, dass wir diszipliniert sind: Die Bevölkerung hielt sich weitgehend an die Vorschriften. Die Innenstädte waren leer gefegte Geisterstädte und der Autoverkehr drastisch reduziert. Es schien eine große Stille über unserem Land zu liegen.
Publik-Forum EDITION
»Das Ende des billigen Wohlstands«
Wege zu einer Wirtschaft, die nicht zerstört.»Hinter diesem Buch steckt mein Traum von einer Wirtschaft, die ohne Zerstörung auskommt. / mehr
Die Natur hielt sich an ihre Gesetze: Pünktlich zog der Frühling ein und die Vögel bauten ihre Nester. Ihr Konzert war in der Stille umso kräftiger zu hören. Der Frühling mit strahlendem Sonnenschein und wieder erwachender Natur machte die Pandemie noch weniger greifbar.
Aus dieser eher diffusen Bedrohung heraus und der Sorge, die Kontrolle zu verlieren, entstanden Hamsterkäufe. Fast amüsant war, dass die Menschen eines jeden Landes etwas anderes zu horten begannen. In Italien und Spanien lag vor allem der Kauf von Rotwein an oberster Stelle. Wir Deutsche deckten uns mit Toilettenpapier ein. Wochenlang waren die Regale leer. Was lässt sich daraus schließen? Sind wir ein besonders reinliches Volk, dem der Gedanke, sich einmal nicht mit entsprechendem Papier den Allerwertesten abwischen zu können, geradezu Panik bereitet?
Außerdem schien man sich auf Eigenversorgung einzustellen, denn auch Mehl und Hefe gehörten zu den ständig ausverkauften Lebensmitteln, so dass davon nur noch haushaltsübliche Mengen verkauft wurden. Die Menschen ließen sich von Hamsterkäufen nicht abbringen, obwohl immer wieder versichert wurde, dass kein Notstand bzgl. der Versorgung der Bevölkerung zu erwarten sei. Ja, es gab sogar heftige Szenen mit Polizeieinsatz, wenn Kassiererinnen auf Einhaltung der vorgeschriebenen Mengen bestanden.
Nachdem die Begrenzungen gelockert wurden, ließ das Hamstern, aber auch die noch notwendige Disziplin spürbar nach.
Was sichtbar in die Krise geriet, war die Wirtschaft insgesamt. Es wird noch dauern, bis sie sich wieder erholt haben wird. Aber es gab auch Einige, z. B. aus den Bereichen Musik, Kunst, Theater, Cafés und Restaurants, die versuchten sich über eigene Initiativen am Leben zu erhalten. Sie handelten nach dem Motto: »Kommt der Kunde nicht zu mir, gehe ich zu ihm.« Kleine Gartenkonzerte gehören zu solchen Events, Lesungen im Freien oder kleine Kabarett- und Theaterstücke. Es war auch eine interessante Zeit – so losgelöst aus der Routine der Jahre.
Jetzt machte sich Paula bemerkbar und hüpfte zum Gartenzaun in meine Nähe. Sie riss mich aus meinen Gedanken und fragte: »Wann kann ich wieder zu dir auf die Bank kommen, damit du mir Geschichten erzählst?« Und sie setzte gleich hinzu: »Du hast mir immer noch nicht gesagt, warum ›Frau Corona‹ so böse ist. Und überhaupt, ich finde es blöd, dass ich nicht in den Kindergarten kann und noch nicht mal zu dir auf die Bank darf.« Nun kam ich wohl um eine Antwort nicht mehr herum. Nach Worten suchend, begann ich ihr zu erklären:
»›Frau Corona‹ ist ein Virus. Dieses Virus ist ganz, ganz klein, so klein, dass man es mit den Augen gar nicht sehen kann. Dazu braucht man Apparate, die sehr stark vergrößern können. Aber, obwohl es so klein ist, kann es dich und mich und natürlich auch andere Menschen krank machen. Wenn du z. B. mit mir redest oder wenn du niesen musst, fliegt es mit winzig kleinen Tropfen von einem Menschen zu dem anderen und kann dann über den Mund oder die Nase in den Körper kommen. Und deshalb darfst du im Augenblick nicht zu mir auf die Bank kommen. Denn wenn die Menschen so nah beieinander sind, können sie sich gegenseitig mit diesem Virus anstecken.«
Viele Fragen kamen noch, die ich geduldig zu beantworten versuchte.
Nach einer kleinen Pause meinte Paula: »Dann ist ›Frau Corona‹ gar keine richtige Königin? Und wenn sie doch eine ist, dann ist sie eine winzig kleine Königin. Ihre Kügelchen oder ihre Tröpfchen können nur von dir zu mir fliegen, wenn wir nahe beieinander sind. Weit fliegen können sie nicht und ›Frau Corona‹ kann schon gar nicht schießen. Das finde ich gut so. Und wenn alle aufpassen, dass sie – wie wir – Abstand haben, dann werden nicht so viele Menschen krank.«
Paulas Verständnis für die Situation erinnert mich daran, dass es auch positive Zeichen in dieser Zeit der Pandemie gab.
Gerade in den ersten Wochen war eine stärkere Solidarität untereinander zu spüren. Man zollte den Ärzten und Pflegekräften Respekt und Dank, aber auch die Verkäuferinnen und Kassiererinnen in den Läden, die dafür sorgten, dass die Grundversorgung erhalten blieb, erfuhren Anerkennung – sogar finanzieller Art in Form eines Extra-Bonus. Die Bus- und Bahnfahrer und viele andere – auch ehrenamtlich Tätige –, die ihren Job machten trotz Infektionsgefahr, wurden mit Lob und Dank bedacht. Viele dieser Helfer waren in den letzten Jahren oft missachtet und respektlos behandelt worden. Jetzt wurden sie zu »Helden des Alltags«.
Aus einigen Ecken kamen in dieser Zeit auch Stimmen zu Gehör, die auf die weltweiten Zusammenhänge von Erkrankungen, Armut und Zerstörung der Natur hinwiesen. Sie sagten, dass Covid-19 uns die Augen öffnen könne für die Probleme dieser Welt. Die Pandemie mache es sehr deutlich, wie eng Alle und Alles miteinander verbunden sind. Und dass man deshalb auch nur gemeinsam weltweit solche Pandemien, aber auch andere wichtige Probleme, wie den Klimawandel, angehen kann.
Covid-19 hat uns auch gezeigt, dass der Mensch keineswegs alles im Griff hat – wie er gerne glaubt und sich in diesem Glauben über die Natur stellt. Der Mensch ist Teil der wunderbaren Schöpfung, aber er kann nicht beliebig über sie verfügen. Die Ausbeutung der Natur rächt sich. Das werden die nachfolgenden Generationen sehr drastisch zu spüren bekommen.
Nachfolgende Generationen? Ich wache auf aus meiner Nachdenklichkeit. Paula kommt zu mir bis an den Gartenzaun. Sie will mir den Marienkäfer zeigen, der auf ihrem Arm krabbelt. Ich schaue ihn mir an – so weit man ihn mit zwei Meter Abstand sehen kann, und sage ihr, dass er ein ganz besonderer Käfer ist – ein Glückskäfer.
Werden ihre Kinder und Enkel noch wissen, was ein Marienkäfer ist? Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass in jeder Krise auch eine Chance steckt. Aber es ist nicht mehr viel Zeit für ein Umdenken und um Katastrophen zu verhindern. Was ist, wenn Covit-19 noch nicht reicht für ein neues Bewusstsein und daraus resultierende Veränderungen in unserem Verhalten? Wird dann eine wirklich ›böse schwarze Königin‹ kommen, um die Menschheit wachzurütteln?
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Alle Beiträge des Erzählprojektes »Die Liebe in Zeiten von Corona«
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Dies ist ein Beitrag im Rahmen des Erzählprojektes von Publik-Forum »Die Liebe in Zeiten von Corona«. Wir laden unsere Leserinnen und Leser ein zu unserem Erzählprojekt: Bitte schreiben Sie uns Ihre Erfahrungen, Nöte, Ängste und Ihre Zuversicht in Zeiten von Corona.
Ingrid boss 29.06.2020, 02:32 Uhr:
Corona macht uns klar, was uns wichtig ist:
SOlidarität, Gemeinschaft, Pflege, Großeltern spielen mit Enkeln, singen, ...bezahlbarer Wohnraum, Radfahrern,
Was unwichtig geworden ist:
Angeber mit SUV, fliegen, ............
Was bleibt
wir werden es sehen