Lesen in der Quarantäne
Infektionskrankheiten mit tödlichem Verlauf sind noch immer erschreckend, auch im 21. Jahrhundert und besonders dann, wenn weder Medikamente noch Impfstoff zur Verfügung stehen und sich noch keine Immunität durch Überstehen der Erkrankung bilden konnte. Da ist die Assoziation zur Pest nicht weit, also zu der Krankheit, die im kollektiven Gedächtnis so erschreckend nachwirkt, dass sich sofort Verdrängungsmechanismen mobilisieren. Verdrängung benötigt unter anderem Ablenkung – was kann da dienlich sein? Lesen zum Beispiel! Da fällt mir doch ein, dass Kranksein seit meiner Kindheit mit einer heimlichen Freude verbunden ist: Habe ich doch die im Bett verbrachten Tage – vorausgesetzt, ich war nicht so krank, dass ich im Fieberzustand unfähig zu jeglicher Handlung war – mit Lesen verbracht, in frühen Kindertagen auch vorgelesen bekommen. Da war »Pünktchen Panni« von Maria Szepes passend, ein Bilderbuch über ein an Windpocken erkranktes Mädchen. Doch ganz so schnell will ich nicht verdrängen, also zurück zur Pest. Auch hier gibt es viele literarische Bezüge, am bekanntesten wohl »Die Pest« von Albert Camus, wo die Seuche auch symbolisch für das Elend steht, das Menschen anderen Menschen bereiten können. Für die Lektüre im Krankenbett ist das Werk vermutlich ungeeignet, die Bedrohlichkeit und Absurdität des Geschilderten nicht der Genesung förderlich. Eine weitere Erwähnung findet die meist tödlich verlaufende Infektion in Wolfgang Hildesheimers Schilderung einer schlaflosen Nacht in seinem Prosawerk »Tynset«. Im Laufe der Nacht versucht der Erzähler Schlaf zu finden, zunächst in einem Cello, dann im Winterbett und schließlich im Sommerbett, dem großen Renaissance-Bett, in dem vor Jahrhunderten sieben Schläfer in einer Nacht Opfer der Pest geworden seien.
In den vergangenen Wochen habe ich die neue Übersetzung von Margaret Mitchells Südstaatenschmöker »Vom Wind verweht« gelesen. Die Sprache von Andreas Nohl und Liat Himmelheber unterscheidet sich in ihrer Schnörkellosigkeit wohltuend von der in meiner Teenagerzeit gelesenen, etwas schnulzig-pathetischen Variante. Neben der eindringlichen Schilderung des amerikanischen Bürgerkrieges wird auch in diesem Buch eine schwere Erkrankung thematisiert. Die Mutter der weiblichen Hauptfigur wird vom Typhus dahingerafft. 1328 Seiten benötigen allerdings einen langen Atem. Für Quarantäne-Betroffene könnte dieser »gehobene Unterhaltungsroman« deshalb eine willkommene Abwechslung sein. Wer dann noch nicht genug hat, kann als Nächstes zu »Rhett« greifen, den von Donald McCaig geschriebenen Roman, der einen intensiven Blick auf eine der männlichen Hauptfiguren wirft und der Geschichte andere Details hinzufügt. In der Gegend, in der Rhett aufgewachsen ist, grassiert im Sommer das Sumpffieber, also die Malaria. Auch dieses Buch zeigt die Absurdität des Krieges und menschlicher Rachsucht.
Ganz anders besonders sind die Schilderungen in Jorge Luis Borges’ »Fiktionen«, ich lese sie gerade voller Begeisterung. Ich bin entzückt und verstehe nichts, ich bin verstört und meine zu verstehen, ich bin emotional verzaubert und intellektuell überfordert. Erschrocken ziehe ich Parallelen mit unser aller gegenwärtiger Situation und fühle mich gleichzeitig an Hörspiele von Günter Eich erinnert (zum Beispiel »Träume«, »Geh nicht nach El Kuwehd«), die ich in einem anderen Leben, nämlich vor etwa sechzig Jahren, im Bayerischen Rundfunk hörte.
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»Das Ende des billigen Wohlstands«
Wege zu einer Wirtschaft, die nicht zerstört.»Hinter diesem Buch steckt mein Traum von einer Wirtschaft, die ohne Zerstörung auskommt. / mehr
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